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awogfli

Posted on 19.11.2022

Okey, da hat also einer meiner Lieblingsautoren angeblich sein ultimatives Meisterwerk mit siebenhundert Seiten kreiert und ich bin eigentlich nur enttäuscht von diesem Roman. Ich kann auch die von vielen angebrachten Elogen überhaupt nicht nachvollziehen, muss mit meiner Kritik sogar noch ein Schäuferl drauflegen und kurz und knackig formulieren: Das ist der schlechteste McEwan, den ich von den zehn – meist begeisternden – Romanen in meinem Leben gelesen habe, er ist schlechter als Schwarze Hunde. Die Intention hinter dem Werk habe ich wohl gecheckt, nämlich eine ganze Familienstory mit den Weltereignissen möglichst ausladend zu verknüpfen, jedoch ist dieses Vorhaben meiner Meinung nach gehörig in die Hose gegangen und das möchte ich hier Schritt für Schritt erklären. Zuerst hat sich der Autor neuerdings eine Art Geschwätzigkeit zugelegt, die ich eigentlich nur in der amerikanischen Literatur als Modeerscheinung verortet habe. Natürlich sind McEwans bisherige Romane auch manchmal ein bisschen ausführlicher, wie zum Beispiel Abbitte oder Saturday, aber letztendlich führten bei diesen Geschichten alle Erörterungen zu einem meist furiosen Finale. Denn der Autor war für mich bis zu diesem Werk zwar ein langsamer Starter mit gemächlichem Plotaufbau, aber ein verdammt grandioser Finisher. In dieser Geschichte verpufft das Ende völlig. Im Gegenteil, auf den letzten Seiten wird auch noch inflationär jede einzelne noch so winzige Modeerscheinung der heutigen Zeit oberflächlich auf den Plot draufgehämmert. Da wird im Sinne von Namedropping im Rundumschlag noch schnell Corona erwähnt, Microdosing und Transaktivismus in einem Nebensatz angeführt. Nicht dass ich etwas dagegen hätte, wenn der Autor sich im Rahmen der Figuren ausführlicher mit den aktuellen Thematiken beschäftigt hätte, aber wenn die letzten Seiten die häufigsten verwendeten Themen des Jahres 2022 nur im Stakkato erwähnen, damit das Werk hier ein modernes Mäntelchen bekommt, dann bin ich verärgert. Ich habe selten so gegähnt bei einem Finale. Also, McEwan erzählt eigentlich das Leben des Roland Baines aus der Sicht des Protagonisten, und zusätzlich auch noch das Leben seiner Eltern, Verwandten, Geliebten, Freundinnen, Freunde, etc. und verknüpft alle diese persönlichen Geschichten mit den Weltereignissen aus den jeweiligen Zeiten. Das epische Vorhaben müht sich schon im Auftakt des ersten Kapitels massiv ab, als der Autor den Plot und die Gedanken des Protagonisten wie ein durch Raum und Zeit teleportierter Waschbär mit ADHS herum mäandern lässt. Zugegeben, der Plot wird anschließend stringenter und die Szenenwechsel in Zeiten und Orten verständlicher, als der Roland des Jahres 1986 seine Kindheit in Libyen und seine Zeit im englischen Internat, als er von seiner Klavierlehrerin sexuell missbraucht wird, relativ chronologisch reflektiert. Nach vielen auf Gewalt herbeigeschriebenen Kausalketten zwischen historischen Ereignissen und allen Protagonisten war ich schon ordentlich genervt, vor allem auch, weil die Ereignisse nicht wirklich von den Figuren unmittelbar erlebt werden, sie werden auch nie tief erörtert, sondern dienen nur als hübsches Beiwerk zur Erklärung von Entscheidungen oder als Nebensätze im Plot. Die Kubakrise war beispielsweise dafür verantwortlich, dass sich der minderjährige Roland in eine sexuelle Beziehung mit der Klavierlehrerin begeben hat, die Thatcher Ära schmückte auch irgendetwas und so ging es munter weiter. Der Reaktorunfall in Tschernobyl im Jahr 1986 und die Angst des erwachsenen Roland um sein Kind ergab ja noch ein bisschen Sinn, obwohl auch hier dann schnell wieder zur Tagesordnung übergegangen wurde, also keine tiefe Analyse der Angst. Bis zur Mitte der Geschichte wurde also zu viel Weltgeschehen und zu wenig Geschehen in der Hauptstory präsentiert, das Verhältnis stimmte irgendwie überhaupt nicht. Ja ich weiß auch, was ich gemacht habe, während die radioaktive Wolke von Tschernobyl am 1. Mai 1986 auf Österreich abregnete, denn ich war auf der Maifeier draußen mitten im radioaktiven Regen, weil der Umweltminister beruhigt hat. Aber all den politischen und historischen Kleinigkeiten in Summe so viel Raum zu geben, war nur noch mühsam. Den Vogel abgeschossen und das Fass zum Überlaufen brachte aber die Erwähnung, dass Hitlers Einmarsch in Polen über fünf Ecken durch berufliche Engagements und Umzüge der Eltern für Rolands Existenz verantwortlich war. Da war ich dann wirklich richtig verärgert, denn hey, etwa achtzig Prozent der Bevölkerung Europas kann diese banale Petitesse in die eigene Biografie einweben, ausgenommen jene, deren Väter die Nachbarstochter geheiratet haben. Nahezu alle erwachsenen männlichen Einwohner Europas haben durch den 2. Weltkrieg ihren Lebensort vorübergehend gewechselt und neue Leute, wie auch hin und wieder ihre Partner irgendwo kennengelernt. Die eigentliche Familiengeschichte, zusammengestrichen auf die wirklich wesentlichen, einschneidenden Ereignisse ist relativ gut, aber wenn man halt zwei Drittel nutzloses Herumgeschreibe fast wie bei einer undurchdringlichen Hecke zuerst mit der Machete eliminieren muss, ist das für mich definitiv kein Meisterwerk. Roland wird von seiner Frau Alissa mit dem Baby völlig überraschend sitzengelassen, da seine Gattin sich selbst verwirklichen möchte. Er hat am Anfang keine Ahnung, warum diese Flucht und Trennung überhaupt stattfand, es gab nicht mal im Ansatz richtigen Streit oder gravierende Eheprobleme. Er weiß auch nicht, wo sich seine Frau aufhält, bis diese in Deutschland zu einer gefeierten Bestsellerautorin aufsteigt. Alissa verweigert jeglichen Kontakt, sogar zu ihrem Sohn. Genau in der Mitte des Romans passiert Roland und seiner geschiedenen Frau tatsächlich etwas Unmittelbares, das mit historischen Ereignissen zu tun hat. In der Nacht des Falls der Berliner Mauer trifft Roland, der sich zufällig in Deutschland aufhält, Alissa in einem Lokal. Diese einschneidende Szene wird aber durch die vorhergehenden inflationären Dependenzen, die Biografie der Protagonisten zwanghaft mit Geschichte zu verbinden, völlig entwertet. Ab zwei Dritteln wird der Roman definitiv ein bisschen besser, denn Roland rafft sich – reichlich spät für eine traumatisierte Figur unserer Zeit (wozu gibt es schon seit den 90er Jahren unzählige Therapeuten) – endlich auf, zwischen seinem fünfzigsten und sechzigsten Lebensjahr ein paar Traumata und Baustellen in seinem Leben abzuarbeiten. Bei dieser Beschäftigung kommen dann auch en passant einige Familiengeheimnisse aus der Vergangenheit der Eltern an die Oberfläche, die den Plot vorantreiben und ein bisschen interessanter gestalten. Dennoch habe ich mit Augenrollen festgestellt, dass der Protagonist so viel Zeit verloren hat, um sich um seine wichtigen Anliegen zu kümmern. Das wäre jetzt ja nicht so schlimm, wenn mir der Autor nicht auch noch Lebenszeit, respektive Lesezeit stehlen würde, weil ich leider seitenweise – ich rede da von mehreren hundert Seiten – und live dabei sein muss, wie Roland nicht in die Puschen kommt und mich mit Sinnlosigkeiten nervt. Hat McEwan schon mal was von Abblendung und Zeitsprüngen gehört? Natürlich, denn im ersten Kapitel hat er mich damit ja überflutet. Das Ende des Romans habe ich ohnehin schon am Anfang meiner Beurteilung zerlegt. Fazit: Für mich kein Meisterwerk, sprachlich wie immer sehr gut, aber wahrscheinlich beim Versuch ein Epos zu kreieren, plotmäßig völlig aus den Fugen geraten. Abseits der ganz passablen Familiengeschichte werden total oberflächlich geschwätzig und ohne Tiefe Protagonisten mit historischen Ereignissen verknüpft. Vierhundert von siebenhundert Seiten für die Tonne. Diesmal runde ich die schwachen 2,5 Sterne auch nicht wohlwollend auf 3 auf, dazu hat mir der Autor mit 700 Seiten einfach auch zuviel Lesezeit inklusive Lesevergnügen und das dann auch noch im Urlaub gestohlen. Lest unbedingt einen McEwan, aber einen anderen.

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