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letterrausch

Posted on 31.10.2022

Woran habe ich bei einem Titel wie „Der Horror der frühen Chirurgie“ gedacht? Operationen des Grauen Stars in der Antike (ja, wirklich) oder Amputationen im Mittelalter. Woran ich definitiv nicht gedacht habe: Plastische Chirurgie während und nach dem Ersten Weltkrieg. Und doch hat sich Medizinhistorikerin und Autorin Lindsey Fitzharris in ihrem neuen Sachbuch genau mit dieser Frage auseinandergesetzt. Ein Eigentor auf Kosten des Verlages, der einen irreführenden Titel ausgewählt hat, der im besten Fall verschleiert, worum es Fitzharris geht. (Im Original heißt das Buch übrigens viel treffender „The Facemaker“.) Trotzdem ist dieses Buch unbedingt lesenswert! Zu Beginn schafft die Autorin zunächst die Wissensbasis für das vorliegende Sachbuch. Wir befinden uns im Ersten Weltkrieg, dem ersten Krieg, in dem die Industrialisierung und Maschinisierung aufs Schlachtfeld gebracht wurden. Vorbei die Zeiten, in denen man sich mit Lanze und Säbel Auge in Auge gegenüberstand. Jetzt gibt es Bomben, Granaten, Maschinengewehre und durch immer weiteren „Fortschritt“ in der Kriegsführung auch bald chemische Waffen (z.B. Senfgas), die ganz neue Verletzungen bei Soldaten hervorbringen. In diesem Krieg nahmen nun die Gesichtsverletzungen drastisch zu – unter anderem durch den Stellungskrieg gibt es plötzlich tausende Soldaten, denen der Unterkiefer weggeschossen wurde. Ihnen fehlen Augen oder eine Wange. Vielleicht auch ein Ohr. Dazu kommen schwere Verbrennungen und Verätzungen durch die oben erwähnten chemischen Waffen. Nun ist es tragisch genug, als Kriegsversehrter fortan nur noch mit einem Bein durchs Leben zu gehen. Doch ein völlig zerstörtes Gesicht birgt noch ganz andere Implikationen. Solch eine Verletzung war oftmals gesellschaftlich geächtet, ganz abgesehen von den psychologischen Folgen, wenn die Männer sich nicht einmal mehr selbst im Spiegel erkannten. Es musste also eine Möglichkeit her, diesen Soldaten zu helfen und ihnen eine Zukunft innerhalb der Gesellschaft möglich zu machen. Anhand des Chirurgen Harold Gillies, der sich während des Ersten Weltkriegs in einem extra für gesichtsversehrte Soldaten eingerichteten Hospital auf dem Feld der plastischen Chirurgie extrem verdient machte (und das bis dahin eigentlich nicht eigenständig existierende Fach quasi begründete), beschreibt Autorin Lindsey Fitzharris eindringlich, welche Methoden (und Erfindungen) angewandt wurden, um den Männern wieder ein Gesicht zu geben. Dabei ist „Der Horror der frühen Chirurgie“ keine klassische Biographie Gillies’. Abgesehen von seinen medizinischen Errungenschaften erfahren wir höchstens ein paar Anekdoten aus seinem Leben. Fitzharris ist daran interessiert, Gillies Einfallsreichtum, seine Neugier und auch seine Fantasie in den Mittelpunkt zu stellen, mit denen er – oftmals in mehreren Dutzend Operationen – ein Gesicht wiederherstellte. Dabei war sein Ansatz fachübergreifend. In seinem Krankenhaus arbeiteten Chirurgen, Zahnärzte und sogar Künstler daran, nicht nur ein Gesicht wiederherzustellen, sondern möglichst auch verlorengegange Funktion (schlucken, sprechen ect.). Beim Lesen wird man immer hin und hergeworfen: Einerseits schont Fitzharris ihr Publikum nicht bei der Beschreibung von Schlachten und Verletzungen. Ihre Schilderungen sind plastisch, eindringlich und erschreckend. Dann wieder berichtet sie von Gillies Forschungsgeist und seinem unermüdlichem Einsatz für seine Patienten. Beide Stränge zusammen ergeben sowohl ein augenfälliges Bild des Ersten Weltkriegs als auch der visionären Arbeit Gillies’. Dass beides sich bedingt – dass also seine Fortschritte in der plastischen Chirurgie ohne die Schrecken des Krieges nicht in dieser Form möglich gewesen wären, wird bald klar. Ein wenig schade ist, dass das Buch ohne Bilder auskommt. Natürlich schreibt Fitzharris in erster Linie für ein medizinisch ungebildetes Publikum und so versucht sie, verschiedene Techniken wie z.B. die Lappenplastik genau und plastisch zu beschreiben. Trotzdem verlangen diese Passagen dem Leser einiges an Vorstellungskraft ab. Das Gleiche gilt für die wiederhergestellten Gesichter. Fans der Prämisse „ein Bild sagt mehr als tausend Worte“ können sich vertrauensvoll an die Suchmaschine ihrer Wahl wenden. Dort gibt es Bilderserien, die den Wiederherstellungsprozess bei einzelnen Soldaten verdeutlichen. So kann man sehen, wie sich das Gesicht eines Soldaten von Operation zu Operation verändert und einer imaginären Norm annähert. Solche Bilderreihen verdeutlichen eindrücklich, welcher gigantischen Aufgabe sich Gillies und sein Team damals gestellt haben. Insgesamt ist „Der Horror der frühen Chirurgie“ trotz des irreführenden Titels eine sehr lohnende Lektüre. Nie sollte man vergessen, welche Schrecken der Krieg bereithält. Man bekommt hier deutlich vor Augen geführt, was Menschen bereit sind, anderen Menschen anzutun. Aber es ist eben auch ein faszinierendes Zeugnis der Medizingeschichte, wenn man sich vorstellt, dass die hier beschriebenen Operationstechniken kaum einhundert Jahre alt sind. Wer sich also entweder für das eine oder für das andere interessiert – wer Geschichte oder Medizin oder eben beides mag – der sollte sich dieses Buch unbedingt ins Regal stellen!

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