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Buchdoktor

Posted on 24.10.2022

Meilin Dao war in konfuzianischer Tradition erzogen worden und hätte, gemeinsam mit ihrem Mann Xiaowen, als vertrauenswürdige Geschäftsfrau einmal erfolgreich im Antiquitätengeschäft ihrer Schwiegereltern gearbeitet. Als Xiaowen 1938 nicht aus dem zweiten Chinesisch-Japanischen Krieg zurückkehrt, entschließt sie sich zur Flucht mit dem damals vierjährigen Renshu. Sie wird den einzigen männlichen Nachkommen der Daos retten und eine unvorstellbar wertvolle seidene Bildrolle, die Xiaowen ohne Wissen seines Vaters auf die Seite gebracht hatte – für eine Notsituation wie diese. Meilins Flucht aus Changsha wird nach zahlreichen gefährlichen Situationen erst 10 Jahre später in Taipeh enden. Meilins Sorgfalt, Zuverlässigkeit und Loyalität waren in ihrer vertrauten Umgebung ihr Geschäftskapital, auf der Flucht muss sie jedoch immer wieder schnelle Entscheidungen treffen und Fremden vertrauen. Jede Entscheidung kann den Tod bringen oder den Verlust ihres schwindenden Kapitals. Noch nicht einmal auf ihren Schwager Longwei kann Meilin sich auf der ersten Etappe der Flucht verlassen. Im Gegensatz zur Ethik seiner Vorfahren steht für ihn nicht grundsätzlich das Familieninteresse im Vordergrund, sondern seine eigene Karriereplanung. Meilin traut ihm von Anfang an nicht und fühlt sich wie eine Spielfigur in einem Spiel, dessen Regeln Longwei nicht offenlegt. Auf der Flucht geht Meilin immer wieder Bündnisse mit unbekannten Frauen ein, ohne einschätzen zu können, ob ihre Partnerinnen ihren Teil der lebenslangen Verpflichtung erfüllen werden. Als Renshu, mit ihr in einfachsten Verhältnissen überlebend, erfolgreich die Schule abschließt und ein Stipendium in den USA erlangt, scheint Meilin am Ziel angekommen zu sein. Renshu Dao zieht bei seiner Einwanderung in die USA einen Strich unter seinen chinesischen Namen; er nennt sich nun Henry Dao. Über seine Vergangenheit wird er nie wieder sprechen, obwohl ihm klar sein muss, dass er seinem Staat Taiwan für die erhaltene Schulausbildung lebenslang Loyalität schuldet und Meilin als Pfand dafür zurückbleibt. Erst als Henry schon mit Rachel verheiratet, Vater der kleinen Lily und als Wissenschaftler in Los Alamos tätig ist, holt ihn seine Vergangenheit ein. Lily kann beim Projekt Familie in ihrer Grundschule die väterliche Seite ihres Stammbaums nicht ausfüllen – und sie hat ihre chinesische Großmutter nie kennengelernt. Mitten im Kalten Krieg zwischen Ost und West fällt es Henry allerdings schwer, nachzuvollziehen, warum seine Tochter ihr chinesisches Erbe so vehement einfordert. Die USA haben für ihre Rüstungsprojekte in Los Alamos weltweit die klügsten Wissenschaftler angeworben, die sie jedoch permanent bespitzeln. Mit seiner beinahe paranoiden Angst, Persönliches von sich preiszugeben, ist Henry als Migrant ein Kind seiner Epoche. Dass er unter die traditionellen Werte seiner Familie nicht ebenso einfach einen Strich ziehen kann wie unter seinen chinesischen Namen, daran drohen seine Ehe und die Beziehung zu Tochter Lily zu zerbrechen. Auch wenn ich ihm übelgenommen habe, dass er nie versuchte, der kleinen Lily für Kinderohren geeignete Geschichten aus seiner Kindheit zu erzählen, ist Melissa Fu in ihrer – fiktiven – Geschichte auch mit Henry eine glaubwürdige Figur gelungen. Der erste Teil mit Focus auf Renshus Fluchterlebnissen konnte mich wenig fesseln, weil Fu Details beschreibt, die erwachsene Leser schneller einordnen können als ein Kind. Als Tochter von Eltern, die stets Kinderohren vor grausamen Kriegs- und Fluchterlebnissen zu schützen versuchten, erlebe ich die Szenen als universell verständlich, andere Leser könnten das anders empfinden. Henrys Leben als Student und Wissenschaftler gibt hochinteressanten Einblick in US-Wertvorstellungen und Rassismus auf amerikanischer und chinesischer Seite. Nie völlig heimisch in der US-amerikanischen Sprache, muss er lernen, dass „eine Party niemals nur eine Party“ ist und er die Codes seiner neuen Heimat evtl. nie begreifen wird. Melissa Fus „Pfirsichgarten“ ist ein bewegender, opulenter Familienroman über drei Generationen, zwischen 1938 und 2005 in drei Staaten spielend. Ihr Focus liegt auf der Kindheit von Vater Henry und Tochter Lily und auf Großmutter Meilin, die ihren Sohn in schweren Zeiten in der Tradition einer chinesischen Kaufmannsfamilie erzieht.

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