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Buchdoktor

Posted on 11.10.2022

Der amerikanischen Journalistin Virginia Cowles (*1919) ins Europa zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg zu folgen, wirkt aus der Perspektive unseres Jahrhunderts wie eine Zeitreise. Mit der Summe, die die Lebensversicherung ihrer Mutter nach deren Tod auszahlte, finanzierte Cowles ihre ersten Reisen. Sie sagt von sich, dass ihre einzige berufliche Qualifikation ihre Neugierde gewesen wäre, und gehört vermutlich zu den Entdeckern der Reisekolumne als journalistisches Format und Geschäftsmodell. Mit der Reise-Schreibmaschine im Köfferchen gelangte sie 1937 über Paris nach Spanien, um u. a. für die Sunday Times über den Spanischen Bürgerkrieg zu berichten. Mit Mitte 20 war sie bereits weltweit vernetzt in einer gehobenen Gesellschaftsschicht, die es sich leisten konnte, Besuch aus aller Welt zu beherbergen und herumzufahren. Cowles Reportertätigkeit scheint rückblickend eine Kette von spontan aus dem Ärmel geschüttelten Flügen, Bahnreisen und Besuchen in den Schützengräben gewesen zu sein. In so mancher Szene musste ich als Leserin darüber grinsen, dass aus Cowles Sicht das Britische Empire in erster Linie dazu diente, ihr ein weltweites Netz aus hilfreichen Kontakten, Unterkünften und unbürokratischen Transportgelegenheiten bereitzustellen. Cowles verkehrte mit Hemingway, arbeitete mit Martha Gellhorn zusammen und interviewte Mussolini. Möglicherweise ist sie die einzige Journalistin (!), die als Alibi-Passagierin diente, um einen militärischen Flug zu vertuschen, die bei minus 40°C auf dem Schauplatz des Finnisch-Russischen-Winterkrieges an tausenden gefrorenen Leichen russischer Soldaten vorbeigefahren wurde und die sich wunderte, dass in einem kalten Land wie Russland keine warmen Strümpfe zu kaufen waren. Mit unvorstellbarem Glück, stets am richtigen Ort gewesen zu sein, und dem Talent, in jeder Situation wieder auf die Füße zu fallen, bereist Cowles das Vorkriegseuropa. Als gut verdienende, weitgereiste Amerikanerin blickt sie selbstironisch, aber auch etwas herablassend auf das europäische Drama. Faszinierend fand ich die Vorstellung, welch wichtige Rolle als einzige Nachrichtenquelle Auslandskorrespondenten damals spielten, die ihre Artikel aus aller Welt telefonisch ablieferten. Natürlich waren sie – in den Pausen zwischen Bombenabwürfen – dabei auf eine funktionierende Verbindung angewiesen und Telefonistinnen, die nicht bereits vom Konkurrenz-Blatt bestochen worden waren. Victoria Cowles Erinnerungen lehnen sich an ihr Tagebuch an; die chronologische Folge war mir jedoch nicht immer klar. Die Frau traute sich was und konnte zweifellos schreiben. Wer sich für weibliche Lebensentwürfe im vorigen Jahrhundert interessiert, wird die 640 Seiten locker weg lesen. Man sollte ergänzend auf jeden Fall auch die textkritischen Anmerkungen im Anhang lesen. Sie machen bewusst, dass das Buch noch während des Zweiten Weltkriegs veröffentlicht wurde, dass es aus persönlicher Sicht wertet und nicht alle Aussagen heute noch haltbar sind.

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