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gachmuret

Posted on 9.10.2022

Die Generation des Summer of Love, die in den späten Sechzigern jung waren, gilt heute nicht mehr als eine Generation, die aus dieser Welt einen besseren Ort machen möchte (Stichwort Boomer). Sie ist die Generation, gegen die die heutige Jugend aufbegehrt. Das tut sie zu Recht, wie jede andere Jugendgeneration vor ihr – und möglicherweise sogar mit noch größerer Berechtigung. In Utopia Avenue erzählt David Mitchell die Geschichte einer Band, die sich aus dem Londoner Untergrund der späten Sechziger an die Spitze der weltweiten Charts arbeitet. Es ist die Zeit nach dem Hippie-Sommer, musikalisch wird viel experimentiert, die Labels sind auf der Suche nach der nächsten Erfolg versprechenden Musikströmung. Die vier kongenialen Bandmitglieder werden von einem findigen Manager entdeckt, zusammengebracht und mit dem notwendigen Glück tatsächlich zum Erfolg geführt. Es ist ein kurzer Höhenflug, nicht einmal zwei Jahre sind der Band vergönnt, nur zwei Alben erscheinen. Das ist keine sehr unwahrscheinliche Geschichte in dieser kometenreichen Zeit des Popmusikgeschäfts. David Mitchell hatte im von Bryan Adams besungenen Sommer wahrscheinlich noch keine six-string, denn er wurde im fraglichen Jahr ja erst geboren. Es handelt sich also – und das erscheint mir wichtig – um kein Erinnerungsbuch. Hier versucht nicht ein alter Mann seine Jugend wiederaufleben zu lassen, als er noch viril war und überhaupt – naja, ihr kennt diese Art Literatur… Nein, Mitchell gelingt in diesem Roman eine mitreißende Erzählung von Träumen und Alpträumen, von Aufstieg und Absturz – vor allem aber von Musik. Seine vier Bandmitglieder, jedeʔr mit eigenen Dämonen kämpfend, sind überzeugend gestaltete Persönlichkeiten. Es lässt sich bei ihrem Aufstieg nicht vermeiden, dass sie (Pop-)Größen ihrer Zeit begegnen. Das ist dann amüsant und gelungen, wenn sie eher beiläufig geschehen – wie die Szenen mit dem jungen David Bowie, der ihnen in Kabelträgerjobs begegnet und von seinen Lebensträumen erzählt. Enervierend wird es allerdings, wenn sie auf der Höhe ihres Ruhmes immer noch jedes Mal aus dem Häuschen geraten, weil sie Zappa, Joplin oder Lennon begegnen. Vor allem aber wirken die so Porträtierten sehr gekünstelt – Mitchells Stärke, seine Protagonistʔinnen glaubwürdig zu zeichnen, verlässt ihn hier angesichts der Notwendigkeit, die Promis mit ihren überlieferten Bildern in Einklang zu bringen. Gerade diese Begegnungen verdeutlichen sehr stark, warum es eine kluge Entscheidung war, die Geschichte einer fiktiven Band zu erzählen. Die ganz große Stärke liegt aber in der Beschreibung der Musik von Utopia Avenue. Jaspers Gitarrenriffs, Deans Bassläufe, Elfs Pianostücke und Gesangsparts, Griffs Schlagzeugspiel, der ganze Sound dieser Band – es wird so lebendig in Mitchells Worten. Wenn er Konzerte schildert, habe ich das Gefühl, dabei zu sein, in die Stimmung einzutauchen, ja, die Musik und das Publikum geradezu zu spüren. Es sind diese athmosphärischen Bilder, die den Roman besonders machen und über die Schwächen des Plots und der erwähnten Begegnungen mit Zeitgrößen hinweghelfen. Und ja, ich habe mir am Ende gewünscht, es hätte diese Band wirklich gegeben. Diese Band großartiger Musikerʔinnen, die zusammen etwas schaffen, das die Zeit überdauert, die einem sexistischen Fernsehmoderator das Studio zerlegen, die mit ihrer Musik reifen und wachsen. Ja, ich hätte furchtbar gerne ihre Musik gehört und so ließ mich die Lektüre am Ende etwas wehmütig zurück. Jedenfalls werde ich jetzt erstmal meine Cream-CDs raussuchen und mich in eine andere Zeit und Welt tragen lassen.

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