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Buchdoktor

Posted on 2.10.2022

Mit ihrem Buch über den ungelösten Mordfall in der Poststelle von Montréal-de-la-Cluse am Nantua-See/französischer Jura kommt die ungenannte Icherzählerin nicht so recht weiter; ihr Informant scheint zu mauern. Anstatt zum Gerichtstermin zur Beweisaufnahme zu erscheinen, verschwindet der Mann 2019 komplett von der Bildfläche. Der Verdächtige nannte sich Gérald Thomassin und konnte von einer erstaunlichen Vergangenheit als Heimkind und jugendliches Schauspieltalent berichten. Im Heim hatte T. gelernt, gegenüber Autoritätspersonen chamäleonartig ausgesucht höflich aufzutreten und zugleich in der Clique Gleichaltriger den starken Mann zu markieren. Sein Selbstdarstellungsdrang wirkt bis in die Gegenwart so ausgeprägt, dass ich zu Anfang der Handlung sicher war, er würde sich um Kopf und Kragen reden und nicht ungeschoren davonkommen. Der Mord an der schwangeren Posthalterin an ihrem Arbeitsplatz setzte 10 Jahre zuvor im Ort ein üppig wucherndes Gestrüpp aus Vermutungen und Hörensagen in Gang. Zur Tatzeit kamen zahllose mögliche Zeugen an der Post vorbei, wiederholt melden sich bei der Polizei Bürger, denen T. angeblich die Tat gestanden haben soll. Und die Liste der Argumente wird immer länger, warum nur T. der Täter gewesen sein kann. Niemand scheint sich zu fragen, wie glaubwürdig das angebliche Geständnis eines Mannes sein kann, durch dessen Leben sich eine Kette von Aufenthalten in der Psychiatrie zieht. Der Vater der jungen Catherine Burgod jedenfalls ruht bis ins hohe Alter nicht mit dem Bemühen, doch noch einen Täter ausfindig zu machen. Florence Aubenas lässt ihre Icherzählerin das Thema mit der Detailtreue der True-Crime-Autorin angehen und nennt exakt Orts- und Zeitangaben. Kapitel für Kapitel protokolliert sie, wie das Misstrauen gegenüber dem Fremden wächst, der in den Ort kam, weil er als volljähriger Ex-Heiminsasse nur hier eine Unterkunft fand. Stärker noch als die Frage, wer der Täter war, gerät in Aubenas Focus, was N. für ein Mensch war und wie er in den Schlamassel geraten konnte … Eine groteske Geschichte, die nicht alle Leser zufriedenstellen wird, aber Fans von True Crime unterhalten kann.

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