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gwyn

Posted on 26.9.2022

«Mama und Papa haben mich vor ein paar Wochen aus der Schule genommen. Das Mädchen hat den Geist aufgegeben, aber zum Psychologen hat mich niemand geschickt. Die wissen schon, warum. Mama sagt, wir dürfen keinem was erzählen, sonst verlieren sie ihre Zulassung als Anwälte, und dann wird nichts besser, im Gegenteil. Ich bin manchmal so wütend auf Papa, dass ich ihn mir tot vorstelle. Verreckt im Straßengraben oder so, erwischt von einem zugedröhnten Raser bei Nacht. Oder ich denke: Verprügle mich noch einmal richtig und ich gehe mit den blauen Flecken zum Jugendamt. Dann heule ich und denke: Papa, ich liebe dich! Was stimmt, ich bin sein Kind.» Juli wächst mit ihren Geschwistern in einer Bilderbuchfamilie auf, zumindest nach außen. Die Eltern sind Rechtsanwälte, Juli ist Klassenbeste, ein Mathegenie, kann dem Taschenrechner Konkurrenz machen. Doch hinter den Mauern der Kleinstadtvilla herrscht der Teufel – der Vater. Der zitiert gern Hegel oder Habermas, drillt die Kinder auf extreme Leistung, prügelt seine Frau und den Nachwuchs gern grün und blau. Die Mutter deckelt nicht nur die Gewalt, sie ist ein Teil davon, weil sie sie es herunterspielt, bzw. billigt, bis hin zur Verleugnung. Nach solchen Wutattacken von Papa – Mama trägt Rollkragen auch im Sommer – gibt es die verdeckte Entschuldigung: «Jedenfalls durfte ich dann die Läden leer shoppen, bis die Karte glühte.» Alex, die Älteste, wohnt schon lange nicht mehr zu Hause; sie hält sich gern aus allem heraus. Max studiert Politik in Tübingen, der ist längst weg. «Aber die Hauptgeschädigten, das sind Bruno, Mama und ich.» Bruno und Mama müssen viel einstecken, weil Papa immer krasser wird in seiner Wut. Juli ist Papas Liebling, das Vorzeigekind, talentierte Eiskunstläuferin mit besonderer Intelligenz, die seine Hand selten zu spüren bekommt. Doch als Juli vierzehn ist, wird sie immer aufmüpfiger und bekommt persönlich den Zorn des Vaters zu spüren. Die Brüder und eine lebendige kleine Maus geben Juli Halt im Alltag. «Als wir reingingen, war Papa außer sich. Irre geweitete Augen, wie auf Drogen. Es ging um das Cabrio, das Bruno nicht gewaschen hatte, aber bald ging es darum, dass Bruno ein arrogantes Stück Sch... sei, das keine Disziplin und keinen Gehorsam kenne und kaum das Gymnasium schaffe. Papa sagte zu Mama: Den miesen Charakter hat er von dir, stimmt’s? Du bist genauso! – Und Mama: Ja, Kurt. Es ist meine Schuld, ich habe ihn verzogen, es tut mir leid. Im Prinzip sagt sie alles, wenn sie Angst hat. Papa schlug Bruno mit der Faust ins Gesicht. Aufs Auge. Auf die Lippen. Bruno winselte vor Schmerz und vor Demütigung, presste dazwischen Sätze raus wie: Papa, ich hab’ doch nichts gemacht, Papa, hör auf, Papa, ich wollte das nicht, Papa, Papa, bitte, bitte. Und irgendwann lag er auf dem Boden.» Eine Familie, die unter der der Gewalt des Vaters leidet, die sie deckelt – die Mutter sozusagen eine Co-Gewalttäterin, die dem Vater gibt, was er benötigt, um sich zu rechtfertigen, die lügt und verteidigt, die als «Tatortreinigerin» fungiert; sie beseitigt Blutflecken auf Teppich und Sofa, zerbrochene Gegenstände und Möbel. Der Bruder des Vaters, Onkel Günther, ein weiterer Verbrecher in diesem Clan; er ist Arzt, versorgt Wunden, deckelt die Geschehnisse, verteilt Verbände, Salben und Pillen. Der Roman ist in drei Abschnitte eingeteilt: 2007, 2014 und 2016 – jedes in der Tonalität des Alters der Erzählerin. Das Buch beginnt in einer Reha-Einrichtung, da die Jugendliche Juli einen Suizidversuch hinter sich hat. Sie berichtet dem Leser aus ihrem Familienleben. 2014 zieht sie nach Berlin, studiert Mathematik und verdient nebenbei eine Menge Geld als Profigamerin – hier ist sie der Mega-Star. Ihre Beziehungen halten nicht nur ein paar Tage, bis sie die Engländerin Sanyo trifft. Sie kann Juli erden. Allerdings nur eine Zeitlang; dann zerbricht auch diese Beziehung. «Ihr naives Getue, immer das gleiche: Ich bin so überrascht wie du. Das war ein Einzelfall. Und so reihte sich Einzelfall an Einzelfall und sie stopfte uns den Mund mit Streuselkuchen und Sahne.» Claudia Schumacher hat ein grandioses Buch geschrieben! Sie beschreibt nicht nur sehr fein einen gewalttätigen Vater, eine deckelnde Mutter – eine toxische Familie, sondern sie zeigt gleichfalls, wie sehr sich aber die einzelnen Mitglieder lieben. Auch liefert sie psychologisch gut aufgebaut, was solche Qualen mit den Seelen der Kinder machen, wohlstandsverwahrloste Kids mit zerschlagenen Seelen. Aber es wird nicht nur die körperliche Gewalt gezeigt, sondern auch das exzessive Drillen der Kinder, Erfolg zu haben, der immense Leistungsdruck, eine andere Form der Kindesmisshandlung. In dieser Familie dreht sich alles um Macht. Bruno, der Frauenheld, ist ein ausgesprochener Macho, gewalttätig; und genau deshalb bekommt er nichts auf die Reihe. Juli kompensiert ihren Schmerz mit blutigen Ego-Shooter-Spielen. Bruno und Juli lieben sich und hassen sich gleichzeitig – auch die Beziehung der Geschwister ist toxisch. Als Juli 2016 Thilo kennenlernt, muss sie sich entscheiden; sie bricht den Kontakt zu ihrem Bruder ab und zieht mit Thilo nach Zürich. Ich-Erzählerin wechselt nun in die dritte Person. Und sie selbst wird zur dritten Person, ein Püppchen, ein Mäuschen, das sich kleintreten lässt ... Wird sie sich aus der Mausefalle befreien? «Sie lieferte uns ans Messer, immer und immer wieder. Sie hat nicht nur darin versagt, uns zu beschützen: Sie hat Papa geholfen, uns kaputt zu machen.» In allen Orten, die die Autorin beschreibt, hat sie selbst gelebt und genau das spricht aus ihren Zeilen. Sehr amüsant fand ich die Beschreibung der jungen Züricher Frauen, das Verhältnis der Schweizer zu ihrem Arbeitsplatz. Passt 100 %! Die Autorin liefert einen Einblick in das ehrenwerte Vorstadt-Haus der Familie Mustermann. Brutale Prosa aus der Sicht einer Betroffenen. Eine junge Frau, die sich ihren Dämonen stellen muss, wenn sie ihr Schneckenhaus verlassen will. Fein analysiertes Coming of Age und gleichermaßen eine Familiengeschichte. Für manch einen Leser kann dieses Buch verstörend wirken. Aber ich kann Ihnen versichern, genau das passiert täglich in tausenden Familien; wer aus der Sozialarbeit kommt, kann Regale damit füllen Und deshalb ist dieser Roman so unglaublich wichtig! Empfehlung! Claudia Schumacher 1986 in Tübingen, studierte die Autorin Literaturwissenschaft, Amerikanistik und Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin, wo sie 2008 das Campusmagazin Furios mitgründete. 2012 zog sie in die Schweiz, um bei der NZZ am Sonntag als Gesellschaftsredakteurin zu arbeiten.

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