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letterrausch

Posted on 18.9.2022

Ruth Ozekis „Die leise Last der Dinge“ hat den diesjährigen Women's Prize for Fiction gewonnen, darum sind die Erwartungen natürlich hoch, wenn man die erste Seite dieses recht umfangreichen Romans aufschlägt. Ist Ozeki eine großartige Erzählerin? Ist ihr Roman ein Highlight? Das gilt es während der Lektüre herauszufinden. In einer nie klar benannten Stadt lebt eine kleine Familie am Rande Chinatowns, ihr Haus offenbar eingeklemmt zwischen Straßen, in denen sich Penner und Junkies herumtreiben. Kenji, ein Jazz-Klarinettist japanisch-vietnamesischer Abstammung, bewohnt mit seiner Frau Annabelle und dem gemeinsamen 12jährigen Sohn Benny ein bescheidenes Häuschen. Offenbar, das erfahren wir ganz am Anfang, hat Kenji auch ein Drogenproblem. Bekifft legt er sich auf dem Heimweg von einem Auftritt auf die Straße vor dem Haus, und wird am Morgen von einem Laster voll mit lebenden Hühnern überfahren. Mit diesem unglaublichen Ereignis startet der Roman und erforscht auf den folgenden 500 Seiten, wie Annabelle und Benny mit der Trauer umgehen. Oder eben auch nicht. Plötzlich mit aller Verantwortung alleingelassen, machen sich für Annabelle an allen Ecken Baustellen auf. Sie arbeitet in der Medienbeobachtung, doch da die Zeitungen ihre Angebote zunehmend einschränken, ist auch Annabelles Job gefährdet. Man kürzt ihre Stunden und verfrachtet sie schließlich ins Home Office, wo ihre Workstation (liebevoll „Kommandozentrale“ genannt) das halbe Wohnzimmer blockiert und die von der Firma vorgeschriebene Archivierung bald das ganze Haus vollmüllt. Das ruft ihren Vermieter auf den Plan und so droht ihr auch ständig die Kündigung des Mietverhältnisses. Und dann beginnt Benny, Stimmen zu hören. Nicht etwa irgendwelche Stimmen, sondern die Stimmen von Dingen. Als eine Schere ihm befiehlt, seine Lehrerin zu verletzen, landet er zum ersten Mal in der Psychiatrie. Es ist ziemlich viel, was Ozeki ihren beiden Figuren hier zumutet. Jede hat ihre eigenen – krankhaften – Mechanismen, um Kenjis Tod zu überwinden. Annabelle, früher hübsch und schlank, hat sich Kummerspeck angefuttert, weshalb auch mal ein Stuhl unter ihr zusammenbricht. Für das kleine Glücksgefühl zwischendurch kauft sie unnützes Zeug: mal eine Teekanne und dann zunehmend haarsträubend kitschige Schneekugeln. Ihr Leben besteht aus Plänen, die sie nie durchführt: Sie kauft eine Salatschleuder, um gesund zu essen, doch einen Salat macht sie sich dann nie. Sie nimmt sich vor, ihre Müllsäcke zu entsorgen und trotzdem scheinen sie sich in jeder freien Ecke zu stapeln. Sie weiß, dass ihr Vermieter das Haus besichtigen will, doch sie erinnert sich nicht, wann, weil sie nicht mehr weiß, wo der entsprechende Brief hin ist. Und Benny hört eben Stimmen. Damit gerät er bald in die Fänge des „Systems“, muss zu einer Psychiaterin und schließlich sogar in die Klinik. Er wird ständig mit verschiedenen Medikamentencocktails ruhiggestellt und grundsätzlich ganz eindeutig zunehmend pathologisiert. Mit seiner Mutter kommt er kaum ins Gespräch, denn sie, die ihn beschützen möchte, behandelt ihn wie ein Kleinkind, was ihn abstößt. Er schwänzt die Schule, versteckt sich in der Bibliothek und findet dort (höchst seltsame und ebenfalls problematische) Freunde. Die Versuchsanordnung, die Ozeki präsentiert, ist zunächst interessant, doch je länger man liest, desto mehr hat man das Gefühl, dass sie ihre Figuren leiden sehen will. Sie tut alles, um ihnen das Leben schwer zu machen. Weder Annabelle noch Benny haben Freunde oder ein irgendwie geartetes Netzwerk. Sie köcheln in ihrer eigenen Trauer, in ihren eigenen seelischen Sackgassen und es ist niemand da, der ihnen einen Weg hinaus weisen könnte. Selbst haben sie dazu offenbar auch nicht die Kraft. Das geht gut 450 so Seiten und zumindest dieser Leserin war das einfach zu viel Seelenschmerz ohne eine irgendwie geartete innere Bewegung der Charaktere. Man möchte Annabelle schütteln und ihr zurufen, dass sie sich endlich am eigenen Schopfe aus dem Schlamassel ziehen solle, doch es passiert nie etwas. Und man darf noch nicht einmal frustiert oder sauer auf sie sein, denn schließlich hat sie ja ein schweres Trauma erlitten. Abgesehen von der Handlungsebene fügt Ozeki noch einige technische Kniffe ein, um der Erzählung einen interessanten Dreh zu geben. Einerseits werden Teile der Handlung von einem Buch erzählt, nämlich Bennys Buch. Also dem Buch, dass man hier gerade liest und das seine Geschichte wiedergibt. Und da Benny ja die Stimmen von Gegenständen hören kann, tritt er in einen Austausch mit diesem Buch. Das war eine durchaus nette Idee, aber letzlich kaum mehr als ein Gimmick. Die Stimme des Buches schwankt zwischen betulich und altklug, um teilweise banalste Einsichten zu erklären. Zusätzlich spickt Ozeki den Roman mit Anspielungen und Kommentaren auf Benjamin und Borges, auf unsere westliche Konsumgesellschaft und das verquere Hirngespinst, dass das Kaufen von Dingen uns Glück bescheren könne. Das alles wird eingebettet in ein nie handfest beschriebenes Setting zusammen mit Figuren, bei denen man sich über weite Strecken fragt, ob sie überhaupt real sind und schwupps: Schon hat man auch noch einen Schuss magischen Realismus untergebracht. Ruth Ozekis Projekt ist ein ambitioniertes, sowohl auf der Handlungsebene als auch auf der Charakterebene und der literarisch-technischen. Leider haben die Einzelteile für mich nicht perfekt ineinander gegriffen. Die beiden Hauptfiguren, obwohl detailliert beschrieben, wurden für mich nie greifbar, ihr Schicksal hat mich nie erreichen können. So viel Passivität blieb mir fremd und Ozeki hat auch wenig unternommen, um sie für mich greifbar zu machen. Der Roman hätte problemlos zweihundert Seiten kürzer sein können, da der Mittelteil ständige Wiederholungen vom selben bringt. Vielleicht hätte der Roman damit (für mich) auch besser funktioniert. So bleibt „Die leise Last der Dinge“ für mich ein sprachlich gut gemachtes Buch, dessen Figuren und Einsichten mich in ihrer Gänze nicht erreichen konnten.

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