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Buchdoktor

Posted on 3.9.2022

„Du musst dich entscheiden, ob du ein Mädchen oder ein Junge bist", hatten die Mitschüler zu Kim gesagt, als das Kind mit einer weiblichen Identität lebte und zu hören bekam, was ein Mädchen tut und besser lässt. Wer sich nicht entscheidet, über die Person entscheiden andere. Heute ist die erzählende Figur erwachsen und schreibt für die Großmutter, die Grossmeer, die wegen fortschreitender Demenz ihre Angehörigen selten erkennt. Ehe sie keinen Zugriff mehr auf ihre Erinnerungen haben wird, will Kim ihr von seiner fluiden Identität erzählen, was seine Mutter zu seiner Verärgerung nicht übernommen hat. Die Familiengeschichte der Großmutter ist nicht unkompliziert. Sie selbst wird nach fünf Brüdern geboren, wie ihre verstorbene Schwester Rosmarie getauft und bleibt ihr Leben lang „die zweite“ Rosmarie. Über das Schicksal der jüngeren Schwester Irma wird in der Familie eisern geschwiegen. Kim, wegen Magersucht therapiert und von selbstverletzendem Verhalten noch nicht geheilt, dated zur Zeit Männer. Mit Rückblicken in die eigene Jugend, in der Kim den eigenen Körper als nicht zugehörig empfindet, verbindet die erzählende Person die Suche nach der weiblichen Linie des Stammbaums mit der gewaltigen 1919 gepflanzten Blutbuche, die Grosspeer, der Großvater, sich eigentlich nicht leisten konnte. Ein Parkbaum war damals Statussymbol des Bürgertums, vielmehr Hobby wohlhabender Männer, die über das Familien-Portemonnaie herrschten. Kims Muttersprache, die Meersprache, ließ nur binäre Identitäten zu und ließ es attraktiv wirken, sich vom „es“ der Kindheit zum „er“ hochzudienen. Zum „sie“ konnten Kinder nicht aufsteigen, weil im Berndeutsch Mami, Großmami und Menschen mit weiblich gelesenem Vornamen lebenslang sächlich „das“ blieben. Grossmeers Pflegeheim dreht den Aufstieg wieder zurück, aus dem „du“ und „ich“ wird dort wieder „man“ oder „Bewohner“. Kim erlebt, dass väterlicher und mütterlicher Zweig der Familie sich unterschiedlich erinnern und Erzähltes unterschiedlich gewichten. Die Frage liegt nahe, ob die „Seite“ besser erzählt, die sich lebendiger erinnert. Dass Kim zugleich den Grund für seine genderfluide Identität in Männer- und Frauenbildern seiner Vorfahren sucht, liegt ebenso nahe wie die Suche nach einer denkbaren Traumatisierung in der Kindheit. Heute fühlt sich die Erzählstimme der Generation zwischen Boomer und Generation Z zugehörig, den apolitischen Selbsterfüllern. Stammbäume zeigen meist nur die männliche Linie. Zu Kims Verblüffung hat die Mutter, die als Frisörin arbeitet, das Schicksal ihrer Vorfahrinnen bis ins 14. Jahrhundert zurückverfolgt, deren Geschichten mühevoll in Schweizer Schriftsprache übertragen und Fachliteratur über Heilerinnen und Hexenverfolgung gelesen. - Ein Stoff, über den ich noch hunderte von Seiten lesen könnte. Das letzte Kapitel verfasst Kim in Englisch, an Großmeer gerichtet, die den Text vermutlich nicht mehr aufnehmen kann. In dieser Familie über Identität frei zu schreiben, ist offenbar noch unmöglich. Neben der Erhebung Kims über die eigene Gesellschaftsschicht könnte die englischen Sprache hier unbefugte Leser*innen ausschließen. Ausgrenzung nichtintellektueller Spießer ließe sich auch in den Erzählton interpretieren, der das hippe Viertel beschreibt, in dem Kim einmal wohnte und wo „mensch“ natürlich Eribon und Erneaux las. Einzelne Gendersternchen sollten niemand von der Lektüre dieses prallen, schillernden, hektischen, zerrissenen Romans abhalten; denn es geht darin außer um eine genderfluide Erzählerstimme u. a. um Familiengeschichten, das Erinnern, Dialekte und Jahrhunderte von Frauengeschichte.

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