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Buchdoktor

Posted on 20.8.2022

Ryokos Partner hat sich an seinem Arbeitsplatz in der Parfümerie das Leben genommen. Es ist der Todestag seines Vaters, an dem sein Bruder Akiro routinemäßig zu Besuch kommen würde. Einen Tag zuvor hatte das junge Paar seinen ersten Kennenlern-Tag, zu dem Hiroyuki seiner Partnerin ein eigenes Parfüm komponierte. Seine Chefin hatte ihn eingestellt, weil er strukturiert handelte und penibelst arbeitete. Gemeinsam mit Akiro entdeckt Ryoko, dass ihr Lebensgefährte sich in Reikos Parfümerie mit einem gefälschten Lebenslauf bewarb und nur einen kleinen Teil seiner Persönlichkeit lebte. Seine weiteren Begabungen wagte er offenbar nicht zu zeigen. Als vielfach preisgekröntes Mathematik-Talent konnte sich „Ruki“ in seiner Jugend nur in Zahlen ausdrücken; als Parfümeur benutzt er nun eine eigene poetische Sprache, um seine Kreationen zu beschreiben. Ryoko fragt sich, ob Definitionen wie „Der Duft von Tau auf einem Farnblatt im tiefen Wald“ eine zusätzliche Botschaft enthalten, die sie erst entschlüsseln muss. Dahinter steckte ein für mich als Europäerin schwer vorstellbarer Druck auf Ruki, wie in einer Co-Abhängigkeit den Ehrgeiz seiner Mutter befriedigen zu müssen. Rukis Familie wirkt wie ein Quartett des Grauens, in dem niemand er/sie selbst sein durfte. Da Ruki vor 15 Jahren die Mathematik offenbar nach einem Wettbewerb in Prag Knall auf Fall aufgab, wird Ryoko (von Beruf Journalistin) nach Prag reisen, um den Auslöser seiner Entscheidung zu recherchieren. Mit seinem Selbstmord hat Ruki wie in einer Schleife offenbar seinen abrupten Ausstieg aus der Mathematik wiederholt. Auch Ryoko vollzieht eine Wiederholung der Ereignisse, als ihr im Kloster Strahov ein Parfümeur begegnet und sie lernt, mit der Sprache der Düfte in die Vergangenheit einzutreten. In Rukis Leben bildeten Empfindungen, poetische Beschreibungen und Düfte eine Art fest gedrehte Kordel, die die Autorin durch ihre Protagonistin wieder aufdröseln lässt, Neben Yōko Ogawas deutlicher Kritik am japanischen Leistungsethos streift sie in „Der Duft von Eis“ das Thema Obsessionen und regt bei ihren Leser*innen die Frage an, ob es eine Verpflichtung geben darf, ein Ausnahmetalent auch nutzen zu müssen.

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