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gwyn

Posted on 23.7.2022

Wer Berichte über die chinesischen Lager liest, dem wird schlecht. Ich habe bereits kürzlich ein Buch dazu vorgestellt: «Die Kronzeugin», das im Jahr 2020 erschien; die Geschichte von Sayragul Sauytbay, die nach Schweden fliehen konnte. Sie sei die erste Zeugin überhaupt gewesen, die sich traute, öffentlich über die Lager Chinas zu sprechen. Hier nun ein Bericht, wie eine Auslandschinesin ins Land gelockt wurde, um dann zu inhaftiert wurde um sie «umzuerziehen». Seit Jahren lebt Gulbahar Haitiwaji mit ihrem Mann und zwei Töchtern in Paris. Ihr Mann war 2002 a.G. der politischen Verhältnisse geflüchtet, besitzt in Frankreich den Asylstatus, die Töchter haben die französische Staatsangehörigkeit. Gulbahar reiste ihrem Mann mit den kleinen Töchtern 2006 nach; sie stellte nie einen Asylantrag. So konnte sie stets ihre Familie in China besuchen, wurde auch nie behelligt. Eines Tages erhält sie einen Anruf aus Xinjiang: Sie müsse dringend nach China kommen, um Dokumente für ihre Rente zu unterschreiben, das persönliche Erscheinen sei unumgänglich. Gulbahar Haitiwaji bucht eine zweiwöchige Reise und landet im Gefängnis. Sie ertrug Verhöre, Folter, Hunger und kafkaeske Zersetzungsmethoden, kehrt erst drei Jahre später zurück. Der Vorwurf: Man zeigte ihr ein Foto. Ihre Tochter sei eine Terroristin, da sie an einer uigurischen Versammlung in Paris teilgenommen hatte. «Unter dem misstrauischen Blick der Lagerleitung käuen wir abwechselnd den kommunistischen Brei wieder, der uns täglich vorgesetzt wird … Wir sind nur noch abgestumpftes Vieh.» Kerim und Gulbahar lernen sich auf der Erdöluniversität in Ürümqi kennen, erhalten Arbeit als Ingenieure bei der lokalen Erdölgesellschaft in Karamay. Die Stadt wurde zu industriellen Zwecken im Schnellmodus errichtet, Bürotürme und Einkaufszentren machten sie schnell zur Großstadt; außerdem wird durch das Land der Uiguren die Seidenstraße führen. Xinjiang ist eine Region im Nordwesten Chinas, in der das mehrheitlich muslimische Turkvolk der Uiguren lebt. Als Gulbahar 2017 zurückkehrt, wird sich am Flughafen verhaftet, kommt aufs Revier, wo man ihr den Pass abnimmt. Den ganzen Tag lang wird sie verhört, darf dann zu ihrer Familie. Jeden Tag muss sie vorsprechen und nach zwei Monaten wird sie wegen «gemeinschaftlicher Störung der öffentlichen Ruhe» verhaftet. Mit Ketten an den Füßen gefesselt, an der Bettstange befestigt, sitzt sie in einer Zeller; es werden 30 Frauen werden, mit denen sie die Zelle teilt. Dauerhaftes Neonlicht, eine surrende Kamera, sowie sich jemand bewegt. Morgenappell, schäbige Mahlzeiten und Verhöre. Was wirft man ihnen vor? Die eine war in Mekka, eine andere hat eine religiöse CD verkauft und eine nahm an einer Hochzeit teil, an der kein Alkohol getrunken wurde. «Es ist verboten, Uigurisch zu sprechen ... Es ist verboten zu beten ... Es ist verboten, die Befehle nicht zu befolgen.» Man schert ihr die Haare, neben Drohungen, Demütigungen und Einschüchterungen, Gulbahar berichtet von Folter, Kälte, Ratten, Hunger, Gehirnwäsche, Zwangssterilisierung; hin und wieder verschwindet nachts eine Frau und andere kommen nach dem täglichen Verhör nicht zurück. Sie hofft auf die Verlegung in eine sogenannte Schule. Wer sich in der Untersuchungshaft kooperativ verhält, erhält die Möglichkeit zur «Umerziehung». «‹Umerziehung durch Arbeit›, die im Unterschied zu den Laojiao nicht der Jurisdiktion unterstanden. Jeder, dessen Gedanken als böse angesehen wurden, konnte ohne Gerichtsverfahren für bis zu vier Jahre in einem Laojiao landen. ... Peking behauptet, die ‹Schulen› seien eine Antwort auf die terroristische Bedrohung in der Provinz.» Gulbahar hat das «Glück» in einer Schule zu landen. In blaue Anzüge gesteckt, werden die Frauen hier gedrillt. Man impft sie, angeblich eine Grippeimpfung. Allerdings bleibt bei vielen Frauen nun die Periode aus. Die Insassen vermuten eine Zwangssterilisierung, von denen unter Uiguren immer wieder die Rede ist. Von morgens bis abends werden die Frauen mit Propaganda gefüttert, müssen das Tagespensum auswendig lernen und Lieder singen, ständig die Nationalhymne. Während des Unterrichts müssen sie im Raum stramm im Kreis marschieren. Wer kollabiert, wird abtransportiert, taucht nie wieder auf. Freitags wird das Erlernte abgefragt. Propaganda bis zum Erbrechen. Während Gulbahar Haitiwaji im Lager inhaftiert ist, wird die Familie in Frankreich tätig, Tochter Gulhumar trägt den Fall der französischen Diplomatie vor. Sie gibt Interviews, verlangt die Freilassung ihrer Mutter, erhält viel Öffentlichkeit, ganz Frankreich kennt nun den Fall. Dennoch wird Gulbahar im November 2018 offiziell in einem neunminütigen Prozess zu sieben Jahren Lagerhaft verurteilt. Die Tochter lässt nicht locker bei der Politik und erreicht noch mehr Öffentlichkeit. Nach zweieinhalb Jahren darf Gulbahar das Lager verlassen, doch sie ist noch lange nicht frei. Sie wird in eine WG gesteckt – denn sie teilt mit mehreren Bewachern nun eine Wohnung, bekocht das Team. Sie erhält Geld, sich neu einzukleiden, darf zum Friseur, darf unter Bewachung einkaufen gehen. Aber sie hat klare Vorgaben: Sie muss mehrmals die Woche die Familie in Frankreich anrufen, sie anlügen und sie sagt ihnen, sie müssen alle Social Media Accounts löschen und die «Lügen» entfernen. Nach drei Jahren kommt sie plötzlich frei – Gulbahar will es erst gar nicht glauben. Erst als sie in Paris das Flugzeug verlässt, fühlt sie sich sicher. Gulbahar Haitiwaji in einem Interview mit Die Zeit: «Ich bin von China inzwischen offiziell zur Terroristin erklärt worden. Meine Familie hat daraufhin den Kontakt zu mir abgebrochen. Alle haben mich in den sozialen Medien blockiert. Ich weiß nicht, wie es ihnen geht.» Seit 2017 wurden mehr als eine Million Uigur:innen in chinesische Lager gesperrt. Niemand weiß genau, wie viele es gibt und wo sie sind. Nur wenige Inhaftierte sind aus dem Land entkommen, die berichten können. Das Datenleak «Xinjiang Police Files» geben diesem System nun Namen und Gesichter. Sie zeigen nie gesehene Bilder aus dem Inneren. Enthalten sind Informationen über rund 300.000 durch die Behörden registrierte, inhaftierte Chinesen, zum größten Teil Uiguren. Auch Fotos aus dem Inneren des Lagersystems sind Teil des Leaks, umfassen auch Geheimdokumente, Schulungsunterlagen und Transkripte von Reden hoher Parteifunktionäre zum Umgang mit der Volksgruppe der Uiguren. In unmittelbarer Nähe eines großen Lagers produziert VW trotz massiver Proteste weiter. Gulbahar Haitiwaji ist eine mutige Frau, genauso wie Sayragul Sauytbay. Frauen, die trotz aller Warnungen der chinesischen Behörden nicht den Mund halten, sondern von ihren Erfahrungen berichten. Chinas Regierung streitet die Existenz der Lager nun nicht mehr ab. Peking nennt sie «Ausbildungszentren». Eine unabhängige internationale Untersuchung der Lager ist nicht zugelassen. Völkermord, Genozid in China, das Auslöschen von Kulturen und Religionen, eine tägliche Verletzung der Menschenrechte. «Mir wurde bewusst, dass sich nichts ändern würde, wenn ich mich weiterhin von der chinesischen Regierung einschüchtern ließe. Meine Geschichte durfte nicht zu einer weiteren unerzählten Geschichte werden», so die 56-Jährige. Gulbahar Haitiwaji wurde 1966 in Nordchina geboren und arbeitete mit ihrem Mann als Ingenieurin in Xinjiang. Als sich die Lage für die Uiguren dort zuspitze, emigrierte die Familie nach Frankreich. 2016 wurde Gulbahar Haitiwaji von den chinesischen Behörden nach Xinjiang zitiert und verbrachte drei Jahre in den Umerziehungslagern. Mit der «Figaro»-Journalistin Rozenn Morgat hat sie über ihre Haft gesprochen. Daraus ist dieses Buch entstanden, das sofort zum internationalen Bestseller wurde.

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