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gwyn

Posted on 20.6.2022

Der Anfang: «An dem Tag, einem Dienstag im Dezember, war ich zu Gast im Kulturhaus einer norddeutschen Stadt und las aus meinem neuen Roman vor. Nach der Veranstaltung trat eine Frau zu mir an den Tisch, an dem ich noch sitzen geblieben war, um das eine oder andere Buch zu signieren. Sie schob mir ihr Exemplar hin. Während ich mich darüberbeugte und meinen Namen hineinzuschreiben begann, sagte sie: Wir haben übrigens denselben Vater.» Eine Schriftstellerin wird am Ende einer Lesung von einer Fremden angesprochen, die behauptet, sie hätten beide denselben Vater. Kommunikation zu Ende. Es gibt keinen Austausch zwischen den beiden, aber die Begegnung löst in der Autorin eine Welle von Emotionen aus. Fragen drängen sich auf, über Ehe und Mutterschaft, über Adoption und andere Familiengeheimnisse, über das Thema Wahrheit an sich. Die Autorin zweifelt nicht am Wahrheitsgehalt der Aussage der Frau, denn sie weiß, dass es irgendwo ein anderes Kind gibt; ihre Mutter hatte davon berichtet – der Ausrutscher des Vaters. Die Mutter hatte durch Zufall den Beleg zu einer Unterhaltszahlung gefunden, damals noch in der DDR. Doch das Thema hatte sich erledigt, da die Mutter das Kind zur Adoption freigab, wohin auch immer, jeglichen Verpflichtungen war der Vater nun entbunden. Die Autorin ruft ihre Schwester an, doch die will davon nichts von der dritten wissen. Soll sie die Geschichte ruhen lassen oder recherchieren, Kontakt aufnehmen? Letztendlich entscheidet sich die Autorin, alles beim Alten zu lassen. Doch innerlich ist sie aufgewühlt. «Ich erwähne diese alltäglichen Verrichtungen, weil die meisten überraschenden Vorfälle in unserem Leben gleichsam nebenbei passieren. Wir setzen nicht aus. Wir halten nicht inne.» Autofiktional überdenkt die Icherzählerin das Konzept Familie, geht episodenhaft zurück in die ihre Familiengeschichte, die sich als brüchig erweist. Familie, Ehe, Mutter zu sein, DDR-Geschichte – ihre Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben geht über in eine fast hysterische Ablehnung gegenüber ihrem Ehemann. Die Autorin erhält nun einen Gastvertrag in den USA, wo sie an einem College deutsche Literatur lehrt. Mit Mutter und Kindern zieht sie sich dorthin zurück und die Distanz ermöglicht ihr, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, sich über ihre Zukunft klar zu werden. «... in der es üblich war, dass die Eltern abends ausgingen, während die Kinder in der Wohnung zurückblieben. In der es außerdem üblich war, dass ein Kind allein mit dem Rad zum Kindergarten fuhr. Einen Weg von beinah zwei Kilometern, der am Wald entlangführte und im Sommer durch den Zuckersand beschwerlich war, man musste absteigen und schieben.» Interessant sind Kindeserinnerungen der Protagonistin, «der Klang dessen, was üblich ist». Ein privilegiertes Kind, das glaubte, die Familie sei reich – nach dem Mauerfall erst begriff sie, «was wirklich Reichtum ist». In diesen Strängen war ich bei der Autorin, Rückblicke in die Vergangenheit. Es ist keine fließende Erzählung, sondern eher eine essayistische Ansammlung von inneren Ansichten, teils recht sprunghaft, manches wirkt wie ein Tagebucheintrag. Ich war etwas erstaunt, weshalb die Autorin die kurze Begegnung völlig aus der Bahn geworfen hat. Nachvollziehbar, wenn sie von der Existenz der Halbschwester nichts gewusst hätte. Aber die Sache wurde eingehend in der Familie diskutiert, war detailliert bekannt – dann jedoch unter den Teppich gekehrt. «Immer gibt es etwas, das mich zurückzieht, der Vergangenheit zu, einem Sumpf, dem ich vergeblich zu entkommen versuche.» Die Ich-Erzählerin spricht den Lesenden direkt an, blättert sich auf. Der Lesende fühlt sich fast als stummer Therapeut, der geduldig den inneren Ängsten einer Frau lauscht, nicht weglaufen kann. Schriftstellerisch erstklassig geschrieben und mit klugen, präzisen Gedankengängen der Selbstreflexion hat mir der Roman gut gefallen. Inhaltlich konnte ich der Hysterie, in die sie sich hineinsteigert, nicht immer ganz folgen; die Protagonistin blieb mir weitgehend fern mit ihrem depressiven Sound. Sie nähert sich sich selbst durch das Schreiben; hält sich aber auf Distanz: spricht von ihrem Mann, dem älteren Kind und dem jüngeren Kind – Menschen, die ihr plötzlich fremd werden. Durch das Schreiben findet sie zur Struktur ihres Lebens zurück, kann sich gestärkt neu aufstellen. Ein interessanter Roman einer schonungslosen Selbstreflexion. «Der Konjunktiv brach in mein Leben ein. Ich fing an, in einer Welt der Möglichkeiten zu leben, der Welt der Verdächtigungen und des Misstrauens.» Julia Schoch, 1974 in Bad Saarow geboren, aufgewachsen in der DDR-Garnisonsstadt Eggesin in Mecklenburg, lebt nach Aufenthalten in Bukarest und Paris als freie Schriftstellerin und Übersetzerin in Potsdam. Für ihr von der Kritik hochgelobtes Werk erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, auch für ihre Übersetzungen französischer Literatur. Nach ihrem Erzähldebüt «Der Körper des Salamanders» veröffentlichte sie Romane. Für ihr schriftstellerisches Gesamtwerk wird ihr 2022 die Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung verliehen.

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