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awogfli

Posted on 1.6.2022

Wenn ich das sensationelle Setting der Geschichte international, literarisch und bildlich ausdrücken möchte, dann wahrscheinlich mit folgendem Vergleich: Thomas Pynchon trifft Charles Bukowski und Manfred Deix auf wienerisch zum Klassenkampf. Macho und Superschnüffler Rock Rockenschaub und sein fetter Polizeifreund Guttmann ermitteln in einer geförderten Wiener Wohnhausanlage, errichtet von der Stadt, ergo Gemeindebau, in der es auf Grund der sozialdemokratischen Führung der Stadt seit dem Ende des zweiten Weltkriegs nur so von Proleten wimmelt. Rock entspricht prinzipiell den Pynchon Ermittlern: männlicher als alle anderen, sehr schräg, unangepasst, ein bisschen verlottert und mit ungewöhnlichem Modegeschmack gehandicapt. Der Bukowski-Deix-mäßige Einschlag aller Anwohner in der Location Gemeindebau manifestiert sich eben sehr tief mit Unterschichtsslang beziehungsweise -schieflage und auch im Setting von sehr ungepflegten, hässlichen = schirchen Figuren. Es werden ordentlich Säcke, Schwänze und Lümmel gelutscht, Pornos geschaut, es wird geflucht, in der Früh schon gesoffen, Trainingsanzüge und verschmutzte Unterwäsche runden das Tagesoutfit ab, das Karl Lagerfeld im Grab rotieren ließe, viele Wohnungen und der Innenhof sind verdreckt, Pöbel at its best. Mit extrem spitzer Feder, sprachlich schillernd und großartig werden alle Figuren gezeichnet: "Typ enttäuschter Sozialdemokrat, der sich jetzt für Querdenken interessierte. Sein Unterhemd hatte den Vorteil, dass er es nicht mehr anpissen konnte, weil er es nicht über die Wampe kriegte. Es bändigte kaum seine mächtigen Tittchen, mit denen er ganze Armeen stillen könnte. […] Irgendwo musste ein Schweizer Messer stecken, das er unzweifelhaft besaß und mit dem er sich zur Not die Zehennägel schneiden könnte. Die Not schien ihm aber noch nicht groß genug zu sein, während ich die Not deutlich sehen konnte. Himmel, was waren das für gelbe Krallen." Die schrägen, sehr indirekten Pynchon Anspielungen kommen in diesem Roman im Gegensatz zum amerikanischen Autor so gut wie nie aus Popkultur, Film und Fernsehen, sondern werden schreiend komisch aus österreichischer Politik und Gesellschaft genährt. Wiener Schmäh Oida/Oide!!! (man sollte ja auch gendern) Ganz am Anfang habe ich noch ob des derben, ruppigen Tons ein bisschen die Nase gerümpft, aber mich in der Folge köstlichst amüsiert, weil alles derart überzeichnet dargestellt ist, dass es nur noch zum Zerkugeln war. Auch die feine Politik und Gesellschaft wird sehr subtil abmontiert. Der österreichische Kanzler in der Story hat im Gegensatz zu unserem realen jungen Ex-Kanzler eine zu große Nase. Der mit den großen Ohren ist sein Freund und Immobilienmakler (kennen wir ja auch in der Realität). Beide feiern im Club „La Famliglia“ (kicher) ab, in dessen Keller sich ein Dark Room befindet, in dem sich die feine Gesellschaft mit jungen Knaben vergnügt. Erinnert frappant an welches reale Lokal … Na? Ich sags lieber nicht, sonst werde ich verklagt. Auch Rock Rockenschaub ist zu dieser Sause zufällig eingeladen worden, hatte aber infolge seines exzessiven Schnapskonsums einen Filmriss und am nächsten Tag das abgebissene, blutige große Ohr des Kanzlerfreundes in seiner kanariengelben Jogginghose. Bereits in den frühesten Morgenstunden des ersten Mai, an dem der gelernte Österreicher, nicht nur der Sozialdemokrat, ausgiebig dem Brauchtum frönt, indem er um zehn Uhr bei der Maifeier mit dem Trinken beginnt, muss Rock seinem Bullenkumpel Guttmann bei einer Ermittlung helfen. Verkatert und unausgeschlafen begibt er sich nach der überstandenen Partynacht im Club zur Aufklärung von zwei Morden in einen riesigen Gemeindebau mit vielen Stiegen. Zudem findet Rock seinen Freund Herschel neben den Leichen im Innenhof des Gemeindebaus auch noch angekettet, ausgeraubt und schwer desavouiert. Natürlich hat keiner im Block irgendetwas gesehen, und so machen sich die beiden Ermittler in der Anlage auf, Zeugen zu finden und in den Wohnungen anzuklingeln. Daraus entwickelt Autor Rebhandel das schon oben angesprochene Panoptikum aus Achetypen, deren Hintergrundgeschichten und deren Wohnungen, die tatsächlich aus einem Comic von Manfred Deix entsprungen sein könnten. Superschnüffler Rock und der fette Guttmann, hetzen also japsend treppauf und treppab durch die große Wohnhausanlage und ermitteln in einem famos konstruierten Kriminalfall, der sich den Namen auch tatsächlich verdient hat. Dazwischen ist alles sehr vergnüglich und teilweise sogar überraschend. Manche Verbrechen sind erfunden, weil jemandem langweilig war, zudem gibt es aber zwei echte Leichen inklusive Täter, eine aufgedeckte Betrugsmasche, ausufernde politische Korruption und die Körperverletzung am Kanzlerfreund, die wahrscheinlich von Rock begangen wurde. Während der Auflösung der Fälle wird sehr viel lamentiert, dass man bei so viel Arbeit die Maifeier verpassen wird, dann wird noch gesoffen und einige Verbrüderungen finden auch spontan statt. Fazit: Grandios! Ich habe mich wirklich köstlich amüsiert. Perfekter Wiener Schmäh. Der Krimi ist wie ein Autounfall. Man muss sensationsgeil alles sehen und wissen. Eine ordentliche Triggerwarnung muss ich auch noch aussprechen, denn für Zartbesaitete ist das wirklich nix: grausliche Deix Figuren, Messies, Scheiße, Müll, ordinäre Dialoge, das perfekte Unterschichtsmilieu. Es wird in den Tiefen des Gemeindebaus gegraben und alles aus der Kinette hervorbefördert. Ein Fest für jene LeserInnen, für die die Fernseh-Serie Kaisermühlenblues Kinderkacke (wienerisch korrekt a Lercherlschas) ist. Die österreichische Politik muss man nicht unbedingt kennen, um sich zu amüsieren, aber die Anspielungen machen eben doppelt soviel Spaß, wenn man sie mit realen Personen verknüpfen kann. Ein bisschen Affinität zu Österreich, zur österreichischen Sprache und der Sozialdemokratie empfehle ich der Zielgruppe für diesen Krimi auch. Ansonsten los geht’s. Unbedingt lesen! Kleines Glossar zur Rezension Schmäh … Scherz grauslich … widerlich, ungustiös schirch … hässlich, ungustiös Kinettn … Künette, Baugrube, Graben Oida/Oide!! … Alter, Kumpel als Anspache gibts auch in der weiblichen Form. Die praktische Verwendung geht jedoch weit über die tatsächliche Bedeutung hinaus. Je nach Betonung und Gesichtsausdruck wird der Ausspruch auch als Ausdruck der Überraschung, Bestätigung oder Missbilligung … verwendet. a Lercherlschas …wortwörtlich der Darmwind eines Vogels so unspektakulär, dass es Kinderkacke oder Kinderkram ist Pöbel … früher Volk, heute ungebildete, unkultivierte Menschen aus der gesellschaftlichen Unterschicht. Wurde in geleakten Chats der Österreichischen Volkspartei ÖVP für alle Menschen, die nicht der Partei (La Famliglia, Die Familie) angehören, verwendet. Prolet … eigentlich Arbeiter aber heute auch ungebildet, unkultiviert und aus der Unterschicht

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