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gwyn

Posted on 5.5.2022

Der ehemalige Foodwatch-Geschäftsführer Martin Rücker legt mit diesem Buch den Zusammenhang zwischen Politik und Ernährung offen und prangert ein verheerendes Staatsversagen an. Zucker ist ungesund und trägt zu Fettleibigkeit und damit zu unseren Volkskrankheiten bei. Das ist bekannt. Auch jeder weiß: Das Essen in Kindergarten, Schule, Mensa, Krankenhaus, Pflegeheim ist weder lecker noch gesund. Natürlich gibt es rühmliche Ausnahmen. Die meisten grundlegenden Dinge, die hier angesprochen werden sind bekannt – aber nicht ihre Verknüpfung in die Politik. Deutsche Ernährungspolitik im Zusammenhang mit der «Macht der Lebensmittellobby» wird erklärt und die Folgen einer falschen Ernährung aufgezeigt und was wir ändern müssten. «Wer wenig hat, muss günstig einkaufen. Bei Lebensmitteln bedeutet das: möglichst viele Produkte, die zu einem möglichst niedrigen Preis gut sattmachen. Also eben kein frisches Obst, Gemüse oder Hülsenfrüchte, die wichtig für die Versorgung mit Vitaminen und Mineralien wären. Sondern Nudeln, Kartoffeln, fettiges Fleisch, Fertiggerichte ...» Untersuchungen aus verschiedenen Ländern zeigen, dass arme Menschen kalorienreich und nährstoffarm einkaufen, und somit Kinder armer Familien in der physischen und psychischen Entwicklung zurückbleiben. Wie kann es sein, dass in einem reichen Land wie Deutschland die Tafeln bildeten, die sich 2005 nach dem neuen SGB 2 aufstellten, volkstümlich Harz-Gesetze genannt, sich bis heute verdoppelt haben, und als systemrelevante Institutionen etabliert haben? 1,6 Millionen Menschen versorgen sich hier! Rücker erklärt: Im Bauch der Mutter orientiert sich das Baby an der Ernährung der Mutter. Es bildet sich ein eigener Stoffwechsel nach dem biologischen Vorbild. Das ist so kompliziert, dass wir über die Erbanlagen dies sogar weitergeben – schlicht: «Was Opa gegessen hat, beeinflusst noch heute unsere Gesundheit». Ein sehr interessantes Kapitel. «Im Schnitt müsse ein Klinik-Caterer mit weniger als 3.50 Euro pro Tag und Patient für Lebensmittel kalkulieren.» Nur 5 Euro geben Krankenhäuser am Tag pro Patient für Essen aus, oft viel weniger – für 4 Mahlzeiten! Wo und warum hier etwas schief läuft, kann man nicht erklären, denn die Krankenhäuser zahlen für medizinische Versorgung und Ernährung, usw. einen nicht einsehbaren Pauschbetrag. Die Gesamtfinanzierung ihrer Einrichtungen legen die Krankenhäuser nicht offen, hüten das Geheimnis im Kämmerlein. Die Kassen tappen genauso im Dunkeln, wie die ausgezahlten Beträge verwendet werden. Ganz davon ab, dass im Medizinstudium Ernährung und ihre Bedeutung für die Heilung keinen Platz hat, kümmert es auch niemanden. Abhilfe könnte ein Gesetz schaffen: Der Rechtsanspruch der Patienten*innen auf Ernährungstherapie! So ähnlich können wir mit den Pflegeheimen weitermachen, in Schulen und Kindergärten usw., Qualitätsvorschriften schaffen, die man kontrollieren könnte. «Sponsoring pervertiert die Wissenschaft. ... geht es nicht um die Suche nach der Wahrheit ... es geht darum, Beweise zu beschaffen, um das Produkt des Sponsors zu verteidigen oder zu verkaufen, Untersuchungen zu untergraben, die darauf hindeuten könnten, dass ein Produkt ungesund ist ...» Tricksereien überall, selbst in Bioprodukten. Bei Herkunftsangaben gibt es jede Menge gewollter Schlupflöcher. Irreführende und absurde Kennzeichnungen machen es dem Verbraucher unmöglich das Herkunftsland zu identifizieren. Bei frischem Obst muss das Land gekennzeichnet sein. Aber wie sieht es aus bei Saft, Marmelade, Gefrierkost usw. Auf Packungen finden wir: Herkunft aus EU-Ländern und Nicht-EU-Ländern; «Genauso könnte dort stehen ‹Planet Erde›». Die Intransparenz ist «ein Geschäftsmodell» der Lobbyisten. Lebensmittelkonzerne geben gern ein Sponsoring für wissenschaftliche Untersuchungen. Ja, warum wohl? Wes Brot ich fress ... Inwieweit können wir diesen Ergebnissen Glauben schenken? Auch interessant ist ein öffentliches Bewertungsmodell nach Kontrollen seitens einiger Ämter zu Restaurants, es gibt diverse Versuche. Das Ergebnis wird durch Ampeln oder Smileys für jedermann einsehbar gemacht. Den Restaurants gefiel es sogar, man konnte mit guten Bewertungen beim Publikum punkten. Der Hotel- und Gaststättenverband sperrt sich. Aber es gibt auch positive Beispiele in diesem Buch, wie z. B. die Firma Frosta, die durch höhere Qualität punktete, damit allerdings auch teurere Ware anbot, zunächst einmal in die roten Zahlen rutschte, bis der Verbraucher verstanden hatte, worum es hier ging. Die Verknüpfung zur Politik aus diversen Gruppierungen wird erklärt, auch, wie z. B. die ehemalige Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner im Amt versagt hat, als Verbraucherministerin aber auch mit ihrer Ernährungs- und Agrarpolitik. Denn der Staat subventioniert eine Landwirtschaft, die unsere Umwelt schädigt, Artenschwund verursacht, und perverserweise gleichzeitig Bauern in Existenznot bringt. Das Sachbuch analysiert in acht Kapiteln, deckt anschaulichen auf, wie das gesamte System zusammenhängt und an welchen Stellen es unterlaufen wird, was zu verbessern wäre. Wir benötigen mehr öffentliche Debatten zu diesen Themen, um den Druck auf verantwortliche Politiker zu legen. Ein wirklich interessantes Sachbuch. Empfehlung! Martin Rücker, geboren 1980, ist Journalist und Aktivist. Er schrieb für zahlreiche Zeitungen und die dpa, bevor er bei foodwatch als Presse-Chef aufsehenerregende Kampagnen gegen irreführende Werbung und für gesunde Lebensmittel gestaltete. Zuletzt stand er der Verbraucherorganisation vier Jahre als Geschäftsführer vor. Bundesweit bekannt wurde seine aufklärerische Arbeit zum Lebensmittelskandal um die Wurstfabrik Wilke, der mit drei Todesfällen verbunden wird.

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