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Buchdoktor

Posted on 7.4.2022

J. M. G. Le Clézios Familie stammt aus der Bretagne und führt ihren Familiennamen auf einen bretonischen Ort zurück. Im 18. Jahrhundert wanderte ein Vorfahre nach Mauritius aus. Während le Clézio senior in den 40ern des vorigen Jahrhunderts als Arzt in Afrika arbeitet, flüchtet seine Frau wegen der Wirtschaftkrise zunächst aus Paris in die Bretagne. Von den deutschen Besatzern wird sie im Zweiten Weltkrieg mit ihren betagten Eltern und zwei Kleinkindern ausgewiesen als „Nichtansässige“ und zieht weiter nach Nizza. In „Bretonisches Lied“ setzt sich Le Clézio in episodenhafter Form mit der ihm vertrauten Heimat seiner Mutter auseinander und reflektiert u. a. den Strukturwandel von Fischerei und Landwirtschaft. Er reiht ohne chronologische Ordnung Themen aneinander, die die Bretagne charakterisieren: vom Meer, den Gezeiten, den charakteristischen Hohlwegen, der deutschen Besetzung, über Katholizismus und Auslöschen der bretonischen Sprache in nur einer Generation. Schließlich findet er seine eigene Rolle mit der Feststellung, dass seine Vorfahren keine heldenhaften Seeleute waren, wie er es als Kind vermutlich erträumte, sondern Bauern in einer abgelegenen Gegend. In „Das Kind und der Krieg“ reflektiert der französische Autor die Auswirkung von Krieg und Verfolgung auf seine frühe Kindheit, als er noch kein bewusstes Gedächtnis hatte und seine Erlebnisse für normal halten musste. Seine Erlebnisse veranlassen ihn („Ich misstraue Büchern und Erinnerungen“) das Erinnern an sich zu reflektieren und sich von der nachfolgenden Generation zu distanzieren, die nicht mehr nach der Ernte einzeln Ähren auflas, um sie zuhause zu Mehl zu mahlen. Bis in die Nachkriegsjahre waren Menschen dauernd hungrig oder sammelten diese Ähren für andere Hungernde. Auch für meine Familie bedeutete das Ährenlesen den unerbittlichen Trennstrich zwischen zwei Generationen. Da es keine Staatsangehörigkeit für Mauritius gab, wurden Vater und Söhne gezwungenermaßen zu Briten erklärt und waren damit Kriegsgegner der deutschen Besatzer. Mit Unterstützung der Dorfbewohner wird die heimatlose Familie in einem kleinen Gebirgsort im Hinterland von Nizza versteckt, um einer Deportation zuvorzukommen. Erst dem Erwachsenen wird klar, dass die Bewohner damals für die Le Clézios und andere Flüchtlinge ihr Leben riskierten. Die Kriegsjahre sind für Le Clézio auch deshalb verlorene Jahre, weil er durch ein bürokratisches Konstrukt erst mit 7 Jahren seinen Vater wiedersehen konnte. Heute erkennt er sich im Verhalten von Kindern wieder, die mangelernährt aus einem Krieg kommen. Erstaunlich finde ich, wie exakt Le Clézio in beiden Erinnerungstexten unterscheidet zwischen Erlebtem und nachträglichem Begreifen. „Der Afrikaner“ und „Das Kind und der Krieg“ ergänzen sich als biografische Texte, „Bretonisches Lied“ weicht als Annäherung an die Landschaft seiner Vorfahren und seiner Kindheit davon ab.

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