Profilbild von thursdaynext

thursdaynext

Posted on 19.12.2021

OMG Gott ist omnipräsent in Jonathan Franzens neuen Roman „Crossroads“. Atheisten sollten sich auf langes Leiden einstellen, denn der seitenstarke Roman (in der Hörbuchversion 3 mp3 Cds mit mehr als 26 Stunden Hörzeit) ist als fulminantes dreiteiliges Familienepos angelegt. „Cossroads“ ist der Einsteiger. So bietet der vorliegende erste Band viel Platz um in die Priesterfamilie, bestehend aus Vater, Mutter und vier Kindern, die in den beginnenden siebziger Jahren des letzten Jahrtausends einer Kleinstadt bei Chicago leben, einzutauchen. Sympathisch ist einem keiner der Protagonisten. Sie alle müssen Entscheidungen treffen, etliche von ihnen wähnen dabei Gott an ihrer Seite, was ihnen eigentlich ihren Weg vorzeichnen sollte doch menschlich wie wir alle nun mal sind kollidieren die Moral- und Wertvorstellungen mit den eigenen Wünschen. Dabei ist es wirklich erbärmlich, wie dieser selbstgerechte Priester trotz aller Gedanken die er wälzt und wider besseres Wissens verwirft und trotz seines hohen Moralanspruchs ein Opfer der dank seines Glaubens jahrelang unterdrückten Geilheit wird und sich die Chose auf widerwärtige Art schönredet. Interessanter ist da Frau Priester, die versucht mit den Dämonen ihrer Vergangenheit zurechtzukommen. Die Kinder, drei Teenies und ein Junge dem dieses Entwicklungsdrama noch bevorsteht kämpfen mit ihren eigenen Problemen, weitgehend unter dem elterlichen Radar, sind ihre Erzeuger doch mit ihren eigenen Problemen beschäftigt. Alle versuchen die Fassade nach außen zu wahren und es gibt schier endlose Selbstbetrachtungen, durchsetzt mit Zeitsprüngen in die Vergangenheit. Franzen strippt seine Protagonisten bis ins Unerträgliche. Dabei kam ich mir ein wenig vor wie im Kasperletheater. Immer wieder möchte man den Figuren zurufen: „Achtung Kasperle, da kommt das Krokodil.“ Und wie beim Kaspertheater nimmt dann das Unheil seinen Lauf. Nebenbei, es muss ja sein um den Roman ins Feuilleton zu bekommen, werden en passant die üblichen amerikanischen, bis heute nicht ausreichend aufgearbeiteten Traumata wie Rassismus, Umgang mit den Ureinwohner, Vietnamkrieg und Klassismus bemüht. So gewandt, wenn auch sehr oldschool angehaucht Franzen mit Sprache umzugehen versteht, die angenommenen Gefühle und Gedanken seiner Protagonisten den LeserInnen gegenüber erbarmungslos herausarbeitet und sie dazu verdammt seine Figuren, mit unachgiebiger Humorlosigkeit bis ins kleinste Detail zu durchdringen, so schwülstig und zum fremdschämen sind seine Sexszenen. Immerhin wirken sie stimmig angesichts der selbstquälerische Religiosität der Protagonisten. Diese sind völlig befreit von der hippiesken Liberalität ihrer Zeit. Hier verkommt Lust zu Geilheit ohne Leichtigkeit. Der Fairness halber sei gesagt, dass die Drogenräusche gekonnt eingefangen sind, auch sie schwer auszuhalten, aber zumindest nehmen sie einen mit. „Crossroads“ kommt stilistisch weniger sprachgewaltig und -mächtig, als aufgedunsen daher. Ölig triefend und salbungsvoll, wird man unglücklich in diese Familiengeschichte der missratenen Urteilskraft hineingezogen. Entscheidungen müssen wir alle treffen, wie wir damit umgehen und in welche Richtung wir uns wenden dafür hat jede/r eigene Kriterien. Gottesfurcht scheint, zumindest bei Franzens Familie Hildebrandt der schlechteste Weg. Das ganze, mir endlos öde vorkommende Hörbuch, ich musste mich wirklich zwingen diese Familie zu begleiten, ist davon durchdrungen, dass eine höhere Macht auf einen herabschaut und man ihr nie genügen wird. Dem Roman geht jegliche Leichtigkeit ab, alles ist schmerzlich ernsthaft, fehlt nur noch, dass die Hildebrandts ihre mittelalterlichen Folterwekzeuge auspacken um sich damit zu bestrafen, für Handlungen die sie in bewußter, gewollter Heuchelei entgegen dem ausgemachten, eingebildeten Willen ihres Gottes begehen. „Crossroads“ zu hören (der Sprecher versteht es meisterhaft die Dramatik des ohnehin schon opulent, schülstigen Textes stimmlich zu unterstreichen), ist ein heftiges Stück Selbstgeißelung. Wäre es kein Rezensionsexemplar hätte ich es mit freudiger Genugtuung in die Ecke gepfeffert.

zurück nach oben