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Matzbach

Posted on 24.8.2021

Lange bin ich um dieses Buch herumgeschlichen. Die Thematik Deutsches Kaiserreich gehört zu meinen Steckenpferden, allerdings haben mit Preis und Machart (darauf werde ich noch eingehen) zunächst abgeschreckt. Doch irgendwann wurde der "Will-haben-Reflex" größer als die Bedenken. Aber die Entscheidung zum Buchkauf habe ich nicht bereut. Der an der Düsseldorfer Universität lehrende Christoph Nonn wählt einen ungewöhnlichen Weg, um seinen Lesern die Geschichte des Kaiserreich nahezubringen. Statt einem durchgängig von 1871 bis 1918 reichenden Erzählstrang wählt er einzelne Tage aus diesem Zeitraum aus, beschreibt die Ereignisse, die sich da ereigneten und ordnet diese dann ein. So behandelt er beispielsweise das Thema "Kulturkampf" am Beispiel der Marpinger Marienerscheinungen 1876, die Affäre um den Hauptmann von Köpenick ist Anlass, sich mit dem Thema Militarismus im Kaiserreich auseinanderzusetzen. Man könnte nun das Buch quasi kreuz und quer nach den Themenschwerpunkten lesen, allerdings sollte man besser die Chronologie, die dann irgendwie doch das zweite Ordnungsschema des Buches darstellt, nicht außer Acht lassen, denn gerade sie ermöglicht es dem Leser nachzuvollziehen, welche Transformationen das Kaiserreich im Laufe seiner Zeit gemacht hat. Mehrfach hat man als Leser das Gefühl, dass das Reich, dem in wirtschaftlicher und sozialpolitischer Hinsicht eine Spitzenstellung in Europa zukam, kurz davor war, in innenpolitischer Hinsicht aufzuholen und vor dem Durchbruch zur konstitutionelllen Monarchie zu stehen (was sicherlich auch die Außenpolitik massiv, und man muss ja wohl sagen positiv beeinflusst hätte), eine Frage, die Nonn dann selbst im drittletzten Kapitel im Zusammenhang mit der "Daily-Telegraph-Affäre" aufgreift, um sie überraschenderweise negativ zu beantworten. Aber seine Argumentation überzeugt. Trotz des Bedeutungsgewinns des demokratisch gewählten Reichstages scheuten die demokratischen Parteien davor zurück, eine durchsetzbare Verfassungsänderung vorzunehmen. Denn dieser Schritt hätte Zusammenarbeit und Kompromisse bedeutet, die Parteien zogen es aber vor, weiterhin Klientelpolitik für ihre jeweiligen Wähler zu betreiben, was sich in Absprachen mit den konservativen Machthabern in der Reichsleitung wesentlich besser erreichen ließ. Wenn also, bildlich gesprochen, die Frucht reif zum Pflücken war, dann fand sich keiner, der es tat. Und so konnten sich die alten Eliten an der Macht halten und einen Kurs steuern, der über den Weg des Ersten Weltkriegs zum Untergang des Kaiserreiches führte und darüber hinaus die Geschichte der folgenden Weimarer Pepublik nachhaltig negativ beeinflusste. Diese Entwicklungen, zusammengesetzt aus den 12 Tagen, hat der Historiker höchst anregend und damit lesenswert nachgezeichnet, eigentlich ein Muss für jeden, der sich für diese Epoche der deutschen Geschichte interessiert.

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