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gwyn

Posted on 16.7.2021

Der Anfang: «Durch die Abenddämmerung getarnt, lehnte er im dichten Gebüsch des Gartens an einer Eiche und wartete. Beobachtete. Von seinem Versteck aus hatte er das Haus und die kiesbedeckte Auffahrt vollständig im Blick. Es war ein seltsames Gefühl, Angst zu haben, dass ihn jemand sehen könnte.» Violet muss mit ihrer Familie in den Ort Perfect ziehen, da ihr Vater, ein berühmter Forscher und Augenarzt, dort einen guten Job angeboten bekommen hat. Ein Umzug ist immer schwer. Doch als sie gleich beim Einzug erfährt, dass in Perfect alle Leute blind sind, bekommt sie einen Schreck. Kein Problem, sagt man der Familie, jeder im Ort trägt eine Brille, mit der man fantastisch gut sehen kann. Sie bekommen einen köstlich schmeckenden Tee geschenkt – jeder in Perfect trinkt ihn, eine frische Portion Teeblätter wird morgens gratis vor die Tür gestellt. Und richtig! Am nächsten Morgen ist die Familie blind. Dank der Brillen ist das Problem behoben. Violet wundert sich: Alles in Perfect ist eklig perfect, die Stadt ist gepflegt bis in den letzten Winkel, alle Menschen sind freundlich und sehen perfect aus, in der Schule sind die Kinder diszipliniert und fleißig. «Hier in Perfect erwarten wir perfektes Betragen!» Diese Stadt erscheint ihr unheimlich. Die Mutter ist plötzlich verändert, kocht, backt, putzt und werkelt im Garten, tritt dem Buchclub bei, tauscht Rezepte mit den Nachbarinnen aus – verlangt von Violet absolute Disziplin. Wie ausgetauscht scheint die Mutter. Der Vater, ein Familienmensch, arbeitet bis in die Nacht hinein, ist kaum zu Hause. Irgendetwas stimmt hier nicht! «Ich glaube, sie war zwölf, als sie aus Perfect geholt worden ist. Inzwischen ist sie deutlich älter, mindestens zwanzig oder so. Hier gibt es viele wie sie.› ‹Aber warum holen sie die Kinder?› Violet war entsetzt. ‹Was ist mit ihren Eltern? Merken die denn nicht, wenn sie auf einmal weg sind?› ‹Nein. Du hast doch selbst gesagt, dass du das Gefühl hast, deine Eltern wären gar nicht mehr deine Eltern. Genau das ist der Grund. Irgendwas geschieht mit den Menschen in Perfect.» Violet hört immer wieder diese Stimme! Und dann liegt diese komische Brille in ihrem Bett. Die Stimme gehört Boy, mit der neuen Brille kann sie ihn sehen. Boy zeigt Violet den verborgenen Teil der Stadt und die Hüter, vor denen man sich in Acht nehmen muss. Nur mit dieser Brille kann man sie sehen. Mitten in der Stadt leben verborgen hinter einer Mauer die Ausgesetzten im Niemandsland – die Menschen, die sich dem System nicht anpassen konnten. Sie haben sich längst aufgegeben, sich in ihrem Schicksal ergeben, weil die Perfecten sie aus ihrem Gedächtnis gelöscht haben. Eine anfängliche Rebellion war von den Hütern niedergeschlagen worden. Wer aufbegehrt, wird von den Hütern hart bestraft. Die Perfecten wissen nichts von den anderen. Und nun ist auch noch Violets Vater verschwunden! Zeit für Violet, den Kampf aufzunehmen, die künstlich erstellte Perfektion niederzureißen. Nur wie? Niemand würde ihr glauben. Auch Boy ist bereit zu kämpfen. Zuerst aber müssen sie dem Geheimnis von Perfect auf den Grund gehen. Wie hängt das alles zusammen? «Ich glaub, ich hab eine Idee› verkündete Violet, als sie ihre Tasse absetzte. ‹Oh nein! Nicht schon wieder›, stöhnte Boy grinsend. ‹Deine letzte Idee hat damit geendet, dass die Hüter uns in der Geistersiedlung an den Kragen wollten!› Ein spannendes, fantasievolles Kinderbuch mit viel Humor. Man klebt förmlich an den Seiten. «Die Frauen von Stepford» hatte ich anfangs vor Augen. Es passiert ein Menge und Violet und Boy sind gar nicht so allein, wie sie dachten. Geheimnis für Geheimnis lüftet sich und der Roman strotzt vor Fantasie. Am Ende ist die Geschichte abgeschlossen ... doch halt, einer konnte entwischen. Wer weiß, ob dieser Bösewicht nicht in einem weiteren Band seine Machenschaften weitertreibt, denn dies ist der Auftakt einer atmosphärischen Mystery-Trilogie. Ein starkes Kinderteam rüttelt die resignierenden Erwachsenen auf, und eine Kinderschar trägt zur Rettung bei. Schlingpflanzen, die bluten, wenn du sie abreißt, auf denen Augen wachsen, die nach dir schnappen, wenn du zu nahe kommst, marode Hängebrücken, geheime Türen, dunkle, unterirdische Gänge, urige Erfindungen und fiese Hüter, vor denen du auf der Hut sein musst – das Buch hat so alles, was ein spannendes Kinderbuch ausmacht. Das Thema ist Überwachung von Menschen und das Austreiben der Fantasie, die Unterdrückung der Individualität. Eigenständiges Denken und Meinungsfreiheit sind abgeschafft in dieser Dystopie, und wer nur einen Funken Aufmüpfigkeit zeigt, der wird weggesperrt. Insofern ist dieses Kinderbuch trotz alles Fantasy hochaktuell! Ich freue mich auf den zweiten Teil. Die Altersempfehlung wird vom Loewe Verlag ab 10 Jahren angesetzt, was ich passend finde. «Nachts schleichen die Hüter in die Häuser, stecken die Brillen in ein Spezialgerät, das sich ‹Aushöhler› nennt, und zapfen die gespeicherte Fantasie ab. Die bringen sie dann zu meinen Brüdern in den Laden, wo die sie abfüllen und aufbewahren.» Helena Duggan stammt aus Kilkenny, einer mittelalterlichen Stadt im Süden Irlands, die sie zu dem Ort „Perfect“ inspirierte. Helena schreibt besonders gerne abenteuerliche Geschichten, da sie sich immer sehr schnell langweilt. Doch sie ist nicht nur Autorin, sondern auch Grafikdesignerin und Illustratorin.

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