Profilbild von Merle

Merle

Posted on 18.4.2021

4.5 ⭐ Danke an NetGalley und den Fischer Sauerländer Verlag, die mir ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt haben. Meine Meinung ist davon unabhängig. Wow, was ein Buch. Vor gut einer Woche habe ich es beendet und musste das Ganze erstmal sacken lassen. Es ist so berührend, es macht wütend und macht warm ums Herz. Also eine wirkliche Achterbahn der Gefühle! Shirin erfährt besonders seit 9/11 fast tagtäglich Mobbing, Gewalt und Beleidigungen. Hauptsächlich, weil sie ein Kopftuch trägt. Da helfen die ständigen Schulwechsel, die mit vermehrten Berufswechseln ihres Vaters zusammenhängen, auch nicht. An jeder neuen Schule wird sie durch ihr Kopftuch direkt als Außenseiterin abgeschrieben und Lehrer stellen ihre Fähigkeiten in Frage. Über die Jahre hat Shirin sich angewöhnt, abwehrend zu sein. Sie will keine Kontakte, sie will in Ruhe gelassen werden. Dann begegnet sie Ocean, der ernsthaftes Interesse an ihr zeigt. Für Shirin ist das kaum vorstellbar, und sie wehrt sich regelrecht dagegen, Ocean in ihr Leben zu lassen. Aber die Anziehung ist zu stark. Shirin ist definitiv keine sympathische Protagonistin. Sie ist unfreundlich, vulgär, abweisen. Aber ganz ehrlich? Bei den Erfahrungen würde doch jeder von uns irgendwann nicht mehr zu allen Menschen nett sein. Ich finde sie sehr realistisch. Sie tanzt Break-Dance und sie schneidert sich ihre Klamotten selbst, und wirkt auf mich cool. Der Break-Dance Aspekt ist relativ wichtig für das Buch, wobei ich da viele Begriffe einfach nicht kannte, und dadurch ein paar Szenen überflogen habe. Aber insgesamt fand ich doch, dass Shirin eine super realistische Protagonistin ist, die halt nicht sympathisch sein SOLL. Ocean ist der typische Golden Boy. Blond, nett, sportlich, beliebt… Er interessiert sich ernsthaft für Shirin, ihre Kultur und Religion, und will sich nicht über sie lustig machen. Mir persönlich bleibt Ocean etwas zu blass; ich weiß nur, dass er unbedingt woanders studieren will, aber über seine Hobbies und Ambitionen erfährt man für meinen Geschmack zu wenig. Das Buch enthüllt Vorurteile, und zeigt diese auf zwei Seiten. Denn einerseits (und das ist definitiv auch das größere und wichtigere Thema) haben so viele Menschen in diesem Buch Vorurteile über Shirin und Muslime im Allgemeinen, und fragen nicht nach. Aber andererseits merkt Shirin auch, dass sie selbst auch nicht frei von Vorurteilen ist. Das Verhalten, was sie an anderen Menschen verurteilt, reproduziert sie selbst – wenn auch in einem deutlich geringeren Ausmaß. Sie geht direkt davon aus, dass alle Nicht-Muslime an ihrer Schule sie als Terroristin sehen, und sich über sie lustig machen wollen. Und ja, viele Personen werden im Laufe des Buches diesen Stereotyp bestätigen, und es tut wirklich weh zu lesen, wie gemein und respektlos Menschen gegenüber Shirin sind. Aber im Fall von Ocean ist sie zu Unrecht unfreundlich, und weist ihn ab, obwohl er gute Intentionen hat. Die Geschichte zeigt einfach, dass Vorurteile gegenüber Personen bei den Betroffenen selbst zu Vorurteilen und Stereotypen führen können. Sehr bewegend fand ich übrigens, dass die Geschichte autobiographisch von der Autorin angehaucht ist. Wahrscheinlich wirkt Shirin deshalb so real; weil Tahereh Mafi selbst diese Wut gespürt hat und sie deshalb so gut beschreiben konnte. Das Buch ist eine eindeutige Leseempfehlung! Für 5 Sterne kommt mir Oceans Charakter etwas zu kurz, und mir haben ein paar Erklärungen bei Begriffen über Break-Dance gefehlt, aber das sind nur Kleinigkeiten; und insgesamt hat mich das Buch unglaublich mitgenommen. Deswegen gebe ich 4,5 Sterne. Besonders jetzt, wo in Frankreich über den „Hijab Ban“ diskutiert wird; ein Gesetz, durch welches Mädchen nicht mehr verschleiert zur Schule kommen dürfen, und Mütter als Begleitpersonen bei schulischen Veranstaltungen auch kein Kopftuch o.ä. tragen dürfen… Es ist immer noch ein aktuelles Thema und ich möchte meine Rezension mit einem Zitat von Shirin aus dem Buch enden, indem sie erklärt, warum sie ein Kopftuch trägt. Dieses Zitat fand ich sehr eindrucksvoll: „Mittlerweile fragte mich niemand, warum ich Kopftuch trug. Die Leute bildeten sich ein, die Antwort zu kennen, obwohl die meisten komplett danebenlagen. Ich trug es nicht, weil ich eine Nonne sein wollte, sondern weil ich mich damit geborgen fühlte – weniger verwundbar. Für mich war es eine Art Rüstung. Ich trug das Kopftuch, weil ich es tragen wollte und ganz bestimmt nicht, um züchtig auszusehen, nur weil irgendwelche Idioten es nicht schafften, ihren Schwanz in der Hose zu behalten.“ (Kapitel 5)

zurück nach oben