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Buchdoktor

Posted on 11.12.2020

Die renommierte Kritikerin der New York Times, Michiko Kakutani, befasst sich mit den Warnleuchten (ein Begriff von Margaret Atwood), die die Ära Trump hätten ankündigen können, wenn sich denn jemand für die gesellschaftlichen Entwicklungen interessiert hätte, die ihr vorausgingen. Neben der deprimierenden Auflistung des Istzustands (Im ersten Amtsjahr des amerikanischen Präsidenten wurden z. B. 2140 seiner Behauptungen als Lügen entlarvt) geht sie in ihrer Analyse bis ins Jahr 1949 zurück, als Orwells Utopie bereits scharfsinnig den Verfall der Sprache dokumentierte. Über Stammesdenken, Angst vor Veränderung, Deklassierung ganzer Regionen, die im Hass auf „Fremde“ münden, ist inzwischen ausführlich geschrieben wurden. Auch ich bin noch immer überrascht, wie eine Bevölkerung, die sich in einem dysfunktionalen Staat abgehängt fühlt, ausgerechnet einem betrügerischen Superreichen zum Wahlsieg verhelfen kann, der sich ausschließlich für sein Ego und die Bedürfnisse seiner Klasse interessiert. Neben dem „truce decay“, dem Verfall von Wahrheit und Anstand, listet Kakutani außer den Fake-News die Fake-Wissenschaft, Fake-Geschichte, Fake-Twitter aus russischen Trollfabriken und Fake-Likes durch Bots als Symptome des Werte-Verfalls auf. Die Trump-Wahl wäre eine fatale Mischung aus frustrierten Wählern, einer polarisierenden Gegenkandidatin, Falschmeldungen in sozialen Medien und gigantischen Wahlkampfspenden für Trump gewesen, so Kakutani. Wie es dazu kommen konnte, dass amerikanische Bürger sich längst resigniert zurückgezogen hatten und sich nicht mehr dafür interessierten, ob Trump lügt oder seiner eigenen Schicht die Taschen füllt, analysiert Kakutani anhand zahlreicher Quellen, die von den 60ern bis in die unmittelbare Gegenwart reichen. Es entsteht das Bild eines tief gespaltenen Staates, in dem Republikaner und Demokraten annehmen, über jeweils eigene Fakten zu verfügen, weil der Respekt gegenüber staatlichen Institutionen und der Wissenschaft verloren gegangen ist. An den Respekt gegenüber Institutionen des demokratischen Staates appellierte bereits 1838 Präsident Lincoln … Vorläufer der postfaktischen Gesellschaft samt ihrer Leugnung der Erderwärmung, der Evolution, des Holocausts, der tatsächlichen Kriminalitätsstatistik, der sexuellen Gewalt, der Gefahr des Zigarettenrauchens, samt einer bedenklichen Erosion der Gewaltenteilung seien die Regierungen Bush und Clinton, die jede eigene Realitäten definierten. Zur Neuschreibung von Fakten zählt die Autorin u. a. die Umdeutung von Geschichte in amerikanischen Filmen und Biografien. Istzustand sei eine Gesellschaft, die zwischen Fakten und Lügen nicht mehr unterscheiden könne und seit der Zeit des Kalten Krieges Naturwissenschaften als ein Narrativ betrachtete, das abgewählt werden kann, wenn einem die Ergebnisse nicht passen. Als Gründe für die Entwicklung führt die Autorin eine Kultur des Narzissmus an, die sich bereits in den 70ern abzeichnete und seit der Jahrhundertwende durch die Sozialen Medien und das Leben in „Silos“ beschleunigt würde, in denen alle Bezugspersonen ähnliche Ansichten vertreten wie man selbst. Der Vollzug zum Ego lässt sich, laut Kakutani, bei zahlreichen Romanautoren verfolgen und gipfelt im Werk Knausgårds. Meinung rangiere seitdem vor Wissen, Gefühl vor Tatsachen und in dieser Wertigkeit spiegele sich Trumps Wahl. Kakutani entlarvt scharfsichtig Merkmale des Faschismus in Donald Trumps Sprache und weist damit indirekt auf die Verantwortung jedes einzelnen hin – niemand kann nach ihrer Analyse mehr behaupten, nichts bemerkt zu haben. Mit zahlreichen seriösen Quellen warnt sie vor dem manipulativen Umgang mit Sprache, die Unrechts-Regimes und deren direkte Lügen stabilisiert („Es gibt keine Rohingya in Myanmar“). Das Zusammenwirken von Auswüchsen moderner Medien (Macht der Algorithmen) mit ihren frustrierten, uninformierten Nutzern als Ursache einer Epoche des Narzissmus und der Respektlosigkeit überzeugt mich in Kakutanis Ausführungen nicht völlig. Wer sich für die Macht der Sprache interessiert, findet in ihrer Streitschrift eine Fülle von Quellen und Anregungen.

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