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Buchdoktor

Posted on 2.12.2020

Annie Ernaux ist 1940 geboren und veröffentlichte nach mehreren biografischen Romanen 2008 "Les Années", einen Roman, der ein ganzes Frauenleben umfasst. Zunächst noch unschlüssig über die Erzählperspektive, entscheidet sie sich schließlich für die 3. Person. Zu Beginn wirkt ihr Roman durch kurze Abschnitte atemlos und schwer zugänglich. Es entstehen jedoch beim Lesen Bilder, Gegensatzpaare und Stichworte, die in meinen Gedanken mehrere Jahrzehnte französischen Alltags und französischer Politik im Schnelldurchlauf vorbeiziehen lassen. Verwunderlich ist für mich aus deutscher Sicht, wie wenig wir doch von unseren Nachbarn im Westen wissen. Markante Punkte, was hattest du selbst in der Kindheit, was kanntest du nicht, wo warst du gerade, als dies oder das passierte, sollten übergreifend eigentlich in jeder Kultur funktionieren. Kindheiten werden offenbar häufig beschrieben mit Hilfe von Gegenständen oder Songs, die eine Generation repräsentieren. Im Deutschen würde Schulfüller oder Prilblume eine bestimmte Erinnerung triggern, ein ganzes Szenario oder einen Geruch. Wie werden solche Trigger übersetzt?, habe ich mich gefragt. Die Übersetzerin hat das m. A. gut gelöst. Eine wichtige Rolle spielen Fotos und Bildbeschreibungen, die die Frage aufwerfen, wer dort abgebildet ist (Außenwelt) und welche Erinnerungen die Protagonistin an den Moment des Fotografierens hat. Ernauxs Themen sind Aufstieg durch Bildung mit der darauf folgenden Entfremdung von ihren Eltern, Abschied von der Provinz und Rückkehr, ihr Entschluss, einen Roman zu schreiben, Beruf und Partnerschaft, eingebettet in markante Ereignisse der französischen Geschichte. Durch Ernauxs Beruf als Lehrerin und ihre eigenen Kinder weitet sich der Blick von ihrer eigenen Generation auf die folgende Null-Bock-Generation, die Ernaux vermutlich ebenso schwer versteht wie ihre Eltern zuvor sie. Die aufzählende Form und die nüchterne Erzählstimme wirken auf mich nicht gerade einladend. Ernaux gibt jedoch in Nebensätzen so viele Stichworte, dass sich über einzelne Themen stundenlang diskutieren ließe. Warum bei einem berufstätigen Paar Kinder und Haushalt Sache der Frau sind, warum lange Zeit Männer das Monopol auf Wahl des Gesprächsthemas hatten und warum Ernauxs Kinder als Erwachsene weiter das Hotel Mama nutzen, sind allgemeingültige Fragen, für die Leser keine Landeskenntnisse mitbringen müssen. Herausragendes Thema war für mich die Ernüchterung einer Feministin, dass ihre eigenen Kämpfe nicht - wie erhofft - der nachfolgenden Frauengeneration den Weg ebnen konnten, sondern sich offenbar jede Generation ihre Rechte neu erkämpfen muss. Ich habe häufig den Eindruck, dass heute Codes bestimmter Alterskohorten eine Kommunikation zwischen den Generationen ausschließen. "Die Jahre" scheint diese versprengten Grüppchen wieder zusammenzuführen.

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