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Bris Buchstoff

Posted on 18.10.2020

Anfang des Jahres 2020, als Corona noch nicht in Sicht war, wir zwei feste Messetermine vor Augen hatten und die Frühjahrsprogramme der Verlage  in den Startlöchern standen, erwähnte die von mir hoch geschätzte Katharina Herrmann (https://kulturgeschwaetz.wordpress.com/) auf die Frage hin, auf welches Buch sie sich freue, den Namen Christian Baron und den Titel seines Debüts: Ein Mann seiner Klasse. Wenn Katharina so etwas sagt, dann überlege ich nicht lange, sondern schreibe mir Autor*in und Titel auf die immer länger werdende Liste - ganz oben - und schiebe andere Bücher dafür manchmal sogar auf. Christian Barons autofiktionales Werk wäre mir glatt entgangen, was extrem schade gewesen wäre.  Und das obwohl sein Thema so schwierig ist. Vater-Sohn-Beziehungen können es in sich haben, aber was Baron ab seiner frühesten Kindheit erlebt hat, ist harter Tobak.  Dennoch hat er es geschafft, ein großartiges Buch darüber zu scheiben und hat dem Mann, der ein Säufer und gewalttätig war, doch so etwas wie Würde zurückgeben können. Dem Mann, von dem er selbst sagt, dass er nie wollte, dass er geht, sondern dass er bleibt, aber eben anders. Christian Baron wächst in einer Familie auf, die man heute als dysfunktional bezeichnen würde - 1985, als er in Kaiserlautern geboren wird, da ist seine Mutter einfach eine junge Frau, die nach der 9. Klasse die Schule verlassen hatte und sein Vater ein junger Mann, der irgendwie immer geladen zu sein scheint. Der Einstieg in die Geschichte seiner Herkunft beginnt folgerichtig mit der Kapitelüberschrift "Zorn" und gleichzeitig mit einem versöhnlichen Ende. Ein frühes Lebensende, das den Vater acht Jahre nach dem Tod seiner Frau ereilt. Vorhersehbar und offensichtlich unvermeidbar. Manche Menschen bringen sich eben langsam selbst um. Am Sterbebett des Vaters wird ein Frieden geschlossen - doch wir erfahren rasch, dass es nicht Christian ist, sondern sein Bruder Benny, der da um etwas weint, das den beiden Brüdern von Anfang an nur selten vergönnt war. "An Gott hab ich nie geglaubt. Aber wen hätte das je vom Beten abgehalten. Also lag ich wispernd unter der Bettdecke: Heute Abend, nur heute Abend möge der Sturm bitte schnell vorüberziehen." Der Sturm - das ist der Zorn des Vaters, der meist die Mutter erwischt, aber nicht nur. Die Schläge, das Wimmern der Mutter - nicht nur die Kinder wissen davon. Alle Hausbewohner kennen dieses offene Geheimnis und tun doch nichts. Nun ja, nicht ganz, sie schauen weg, sie wollen nichts damit zu tun haben, sich nicht einmischen. Auch dass die Mutter zu diesem Zeitpunkt bereits schwer krank ist, weiß man. Der Abend, der der Leserschaft einen ersten Eindruck des Mannes vermittelt, der im späteren Verlauf des Buches durchaus vielschichtiger und komplexer dargestellt wird, bringt überhaupt keinen Sturm. Im Gegenteil. Es ist eine der wenigen Erinnerungen, die Benny und Christian positiv Erinnerung bleiben werden. Zwar ist die Mutter nicht da und der nächste Morgen, an dem sie zurückkommt und die Kinder zu Hause statt in der Schule vorfindet, weil diese die ganze Nacht mit ihrem Vater Super Mario gezockt haben, verläuft in Katerstimmung, aber dieses kurze Gefühl der Verbundenheit ist es, das auch später im Buch immer wieder durch die vielen wirklich schlimmen Situationen hindurch aufblitzt. Die Verbindung zu den Eltern ist eben eine besondere. Egal, wie schlecht sie einen behandelt haben mögen, es ist schwer diese Verbindung zu kappen. Väter und Söhne tun sich da oft besonders hart. Und so ist es nicht weiter verwunderlich, dass sich Baron trotz allem nicht wünscht, dass sein Vater gehen möge, sondern dass er bleibt. Aber eben anders. Der Blick auf den Vater geschieht aber nicht nur aus Barons eigener Perspektive. Um die Erinnerung aufzufrischen und naturgemäße Lücken zu schließen, trifft er sich mit der Frau, die nach dem Tod der Eltern für die Geschwister, insgesamt sind die Baron-Kinder zu viert, für sie sorgen wird, so gut sie es nur kann: seine Tante Juli. Die jüngere Schwester seiner Mutter hielt noch nie etwas vom "Rotschopf" wie sie ihren Schwager nennt. Aber ihre große Liebe zu ihrer Schwester zwang sie geradezu, nicht mit ihr zu brechen und ihr am Sterbebett zu versprechen, dass der verhasste Schwager die Kinder auf keinen Fall bekommen wird. Tante Juli ist die Gewährsperson für die Leerstellen, die Baron selbst haben muss. Denn die Eltern haben nie davon erzählt, wie sie sich kennenlernten und verliebten oder warum sie geheiratet haben. Und so ist es fraglich, ob sich all das, was Baron nicht selbst erlebt hat, so zugetragen hat oder ob es wie alles in diesem Roman, so sagt er selbst, zwar wahr ist, aber doch fiktiv. Diese Unzuverlässigkeit ist aber komplett nebensächlich und tut der Güte dieses erstaunlichen Debüts keinen Abbruch. Dass  "Ein Mann seiner Klasse" autobiographisch gefärbt ist, steht außer Zweifel. Ob es ein Roman ist, darüber ließe sich diskutieren. Ganz klar ist aber, dass Baron den Fokus nicht auf seine Person, sondern die Umstände legt, in denen er aufwuchs. Auf jeden Fall aber ist es ein wichtiges, hartes, schmerzhaftes, aber auch an manchen Stellen versöhnliches Buch, das, liest man sich die Besprechungen in den Feuilletons durch, unterschiedlichste Reaktionen hervorruft. Und das ist - zumindest für mich - ein untrügliches Zeichen für wahre Literatur. Allerdings kann ich nicht nachvollziehen, wie man einem solchen Buch vorwerfen kann, dass die Personen zu unreflektiert seien. Denn genau das ist doch offensichtlich einer der Punkte, der solche Lebensrealitäten kennzeichnet. Ein Kritikpunkt, den man nur einnehmen kann, wenn man eben solche Erlebnisse niemals erfahren hat, und in anderen Verhältnissen aufgewachsen ist und mit Menschen, die nicht so ticken, wie man selbst, kaum in Berührung kommt. Es geht hier nicht um Innensichten – es geht darum, eine Sichtweise und nicht die Wahrheit zu zeigen. Und es geht wohl auch um so etwas wie Würde. "Meinst Du nicht, dass es ihm jede Würde nimmt, auf einem Komposthaufen zu enden?", fragte ich. "Welche Würde?", fragte Benny, "seine Seele existiert nicht mehr, und die Würmer haben seinen Körper schon lange aufgefressen. Unseren Vater gibt es nur noch in der Erinnerung. Dort steckt seine Würde und nirgendwo sonst." Was genau in einer Biographie passieren muss, damit nicht nur das eigene Leben so komplett aus den Fugen gerät, ist ja meist nicht an einem Punkt festzumachen. Barons Vater hat zum Beispiel immer schwere körperliche Arbeit verrichtet, hat seine Kinder auch geliebt - und so wie die Anfänge der Beziehung zwischen ihm und seiner Frau dargestellt werden, hat er sie mehr geliebt als sie ihn. Systemische oder strukturelle Randbedingungen sind an dem Abbiegen in eine Lebens-Einbahnstraße also genauso beteiligt, wie persönliche. Und das zeigt Christian Baron punktgenau auf. Hier gibt es kein Schwarz oder Weiß nur ein: alles ist wahr, aber nichts stimmt genauso. Dass er als Autor dabei trotz der gewählten Erzählperspektive aus der Sicht von Christian Baron hinter seinem Text bleibt, das ist grandios. Und lässt Spielräume offen. Die harten Fakten aber bleiben und die sind erschütternd genug. Baron und seine drei Geschwister werden Narben davon tragen, die man nicht sieht, die aber für sie selbst immer spürbar sein werden. Alleine der frühe Krebstod der Mutter, für den manch einer den Vater zwar gerne verantwortlich machen würde, der aber eher den damals noch nicht ausreichenden medizinischen Mitteln zuzuschreiben ist, birgt schon genügend Raum für Traumata. Und dennoch ist neben Zorn noch viel Platz für vielschichtige Gefühle. Baron selbst scheint zu keiner der Welten, die er kennenlernt, so richtig zu passen – obwohl er in Interviews durchaus angekommen wirkt. Die Kernfamilie, also seine Geschwister und seine Tante – sind einsteils stolz darauf, was er erreicht hat, andererseits empfinden sie ihn als jemanden der geflohen ist und sich für etwas „Besseres“ hält. Die Leserschaft merkt schnell, dass dem nicht so ist, dass Baron eher im Gegenteil das Gefühl hat, nicht zu genügen. Ein Gefühl, das viele Menschen kennen. Ob das immer etwas mit Herkunft und Klassenzugehörigkeit zu tun hat, bezweifle ich, aber natürlich kann man leichter zu einem selbstbewussten Menschen heranwachsen, wenn man privilegiert ist. Was Privilegien sein können, das zeigt "Ein Mann seiner Klasse" unaufdringlich und nachhaltig auf. Ein Buch, das trifft, betroffen macht und dennoch nicht endlos schwer daherkommt. Ein wichtiges Buch, das Verhältnisse zeigt, die für die 1990er- Jahre in Westdeutschland nicht unbedingt durchgängig Realität waren, aber dennoch zu häufig vorkamen, dabei bleiben Vorwürfe aus. Christian Baron hat den Frieden mit seinem Vater noch nicht gemacht. Aber er hat sich ihm angenähert und das hat etwas Tröstliches. Eines meiner Lesehighlights des Jahres 2020, das uns als Gesellschaft einiges abverlangt und zeigt, dass wir trotzdem dankbar sein können.

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