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wandanoir

Posted on 26.9.2020

Fabulierlust: Für literarische Terriere. „Die Erfindung“ hat den Deutschen Buchpreis 2015 abgeräumt. Zurecht. Ganz zurecht. Nüsse gibt es reichlich zu knacken ... viele Leser wird es dennoch nicht bekommen. Auch ich schwächelte kurzfristig 200 Seiten vor dem Ziel. Kurzimpressionen: Detailreich. Verrückt. Im Ausland nicht zu verstehen. Arme Übersetzer. Typisch deutsch. Kunstvoll. Kulturgeschichte. Vorwort fehlt. Nachwort fehlt. Ellenlanges Personenregister. Witzel sei Dank. Wissenswertes. Gesellschaftskritik. Verzwickt. Witzig. Klug. Ermüdend. Sperrig. Ohne Worte. Leserquälerei. Herausfordernd. Ein Buch für eine Doktorarbeit in Germanistik. Zieht alles durch den Kakao. Erinnerungen ...die auch meine sind. Motto: „...und jede Handlung zersplittert in ein unendliches Kaleidoskop von Möglichkeiten“. Inhalt – so weit man ihn verstanden hat: Ein dreizehneinhalbjähriger pubertierender Knabe wächst in einer instabilen Familienkonstellation heran: Der Vater kümmert sich nicht oder kann es nicht, die Mutter hat in jungen Jahren schon einen Schlaganfall, der sie halbseitig lähmt, trotzdem gibt es einen sehr kleinen Bruder, der das bisschen Liebe und Kraft, das die Mutter noch hat, besetzt. Irgendwo eine Schwester. Wird sie sexuell missbraucht? Oder ist das Fantasie? Der Vater trägt Verantwortung in der Gemeinde, er wird häufig als „der Fabrikant“ bezeichnet und als beängstigende Überfigur wahrgenommen, der man es nie recht machen kann. Die Frau von der Caritas gehört, weil sie notgedrungen die Mutter ersetzt, zum Feindbild des Knaben, der sich die Welt, die ihm niemand erklärt, zurechtfantasiert, zurechtzimmert und neu (falsch) zusammensetzt. Eine starke religiöse Prägung und die Faszination, die von den Mitgliedern der militanten Bewegung der RAF ausgeht, weil sie rebellieren und stark sind, während man sich selbst als schwach empfindet, wird als Projektion über den schwierigen Alltag gelegt, was sich zum Beispiel darin äussert, dass die Clique des Jungen „RAF 1913“ sich aus Spaß zu den wenigen Kleinverbrechen des Dorfes, z.B. einem Überfall auf den Zeitungs-und Tabaksladen Maurer oder aber auch einem Mord „bekennt“, woraus sich imaginäre polizeiliche Verfolgungen und Angst und infolge dessen eine ausgewachsene Paranoia entwickeln. Dazu kommen die üblichen sexuellen Fantasien dieses Alters „Achims Mutter nackt sehen“, wobei gedanklich allerhand störendes Leuts über die Wupper geht, z.B. Achim. Über den Beginn der Missverständnisse: „Warum nennen wir uns nicht einfach nach denen, die das Kaufhaus in Frankfurt angesteckt haben?, sagt Claudia. Baader, Ensslin, Proll. Oder Baader, Ensslin, Söhnlein. Ja, Söhnlein Sekt. Mensch, das ist es doch, wir nennen uns Söhnlein, Henkell und MM. Und MM soll dann wohl ich sein?, sagt Claudia, dann bist du aber das Fabrikanten-Söhnlein. Du bist echt fies, sage ich. Aufbau – so weit man ihn verstanden hat: Es gibt drei verschiedene Ebenen: 1. Eine Erzählende. Worunter allerdings auch eine (schein-)philosophische Abhandlung über "18 Sätze zur Verdinglichung des Entgegenstehens“ subsumiert sind, ein ganzes Theaterstück, mehrere, seitenlange Lebensläufe (wer, wie und was, wäre ich gewesen, wenn ich ein anderer geworden wäre), religiöse Visionen, diverse Imaginationen über alles Mögliche, Todessehnsuchtsfantasien, Mordgedanken und dgl. mehr. Hierher gehören die Kindheitserinnerungen und sogar lyrische Teile. Zitat: „Katzengraue Kälte streicht um die Ecken. Es ist betörend, im Sommer an Freiheiten zu denken, die sich im Winter in Hoffnungslosigkeiten auflösen“ oder „Dehnungsnarben am Himmel vom ständigen Wiedergebären der Welt und ihrer Sinnzusammenhänge“. „Der späte Nachmittag rutscht immer wieder müde an den gekachelten Wänden der Hinterhöfe ab.“ Den lyrischen Anteil dieses Buches liebe ich. Hierher gehören auch Gedanken über die Notwendigkeiten des Leidens und des Lebens allgemein: Zitat: „ ...weil leben wahrscheinlich heißt, in denselben Räumen auf immer dasselbe zu stoßen, weil leben heißt, dass andere durch meine Träume gehen, andere durch meine Gedanken gehen, mir nur der Raum gehört, sonst nichts, nur der Raum, den ich nicht wechseln kann und der mir, weil ich ihn nicht wechseln kann, zur Zelle wird, die eigene Existenz in diesem nicht zu wechselnden Raum zur Zelle, ich wenigstens, wenn ich diese Zelle schon nicht verlassen kann, einmal, wenigstens einmal durch Träume und Gedanken anderer gehen will, einmal über Raum und Zeit verfügen, nicht länger in meiner Zelle gefangen sein, nicht regredieren, wo ich Intimität verspüre, nicht wüten, nicht sinnlos gegen die Zelle wüten, sondern einmal von oben, und wenn nur vom Schnürboden aus, auf die anderen Mitgefangenen hinunterschauen, die Mitgefangenen, die wie ich gerade noch immer weiter hin- und herlaufen und hin- und herdenken und nicht zur Ruhe kommen und nicht daran denken wollen, woran sie denken müssen, hin und her, her und hin, um Glück für dich zu werben, nur an das Eine dacht ich nicht, dass du mir könntest sterben". (Ganz unvermittelt endet der Satz mit einer bekannten Grabinschrift eines Hamburger Friedhofes; Anm. der Rezensentin). 2. Eine Erklärende In den sogenannten „Verhören“, der Verhörte ist jetzt in seinen Fünfzigern, soll er sich offensichtlich rechtfertigen für seine Taten bei der RAF. Gehört er nun der richtigen RAF an oder nicht? Der Verhörende geht davon aus. Der Leser lacht. Gleichwohl wird in diesen Kapiteln vom Autor oft eine Erklärung für den Pubertierenden nachgeliefert. Zitat: „Getrieben von der Hoffnung, in diesem einschneidenden Erlebnis (beängstigende Vision), bei dem es sich um einen ersten psychotischen Schub gehandelt zu haben scheint, einen Ausweg aus seiner sonst eher verfahrenen Lage der Isolation in Schule, Gemeinde und Familie zu finden, begibt sich der Teenager mit großem Eifer in die Bilderwelt, die ihm damals begegnete, um sie gemäß seinen Möglichkeiten darzustellen und zu analysieren“. 3. Die Krankheitsebene und das Philosophische: Ganz offensichtlich ist der Knabe in eine psychische Krankheit geflüchtet. Es gibt Kapitel, die in einem Sanatorium spielen, wobei sich Theologie und Psychologie einen erbitterten Zweikampf über die Deutungshoheit der Gedankenwelt des jungen Zöglings liefern. Dabei bekommen beide „Logien“ ihr Fett weg. Der Leser lacht. Diese Krankheitsebene erlaubt dem Autor, den Leser zu verwirren, zu überraschen und ihm nebenher auch viele Kenntnisse zu vermitteln. Diese raffinierte Ebene erlaubt dem Autor aber auch: ALLES. Eigentlich weiß man nie so richtig, was wahr und was erstunken und erlogen ist. Hat der Knabe wirklich aus Versehen seine Tante umgebracht, weil er ihre nackten Brüste anfassen wollte und dies nur tun konnte, als er sich mit der Leiche einschließt? Die biblischen Visionen, die er hat, beruhen sie auf Tatsachen? Der Autor nimmt sich die Freiheit, biblisches Geschehen und Berichte völlig zu verschwurbeln und umzudeuten, der Leser lacht. Man sollte sich auskennen im Gedankengut des christlichen Abendlandes, sonst entgeht einem mancher Witz. Denn erklärt wird NICHTS! [Eigentlich hat mir das gefallen, à la, lieber Leser, erkenne, was du erkennen kannst, wenn ja, hast du Spaß, wenn nein, dann eben diesmal nicht, vielleicht an einer anderen Stelle. Ich bin sicher, auch ich habe nicht jeden Witz erkannt.] • Es ist bei dieser Lektüre ein unschlagbarer Vorteil, ein ungefährer Altersgenosse Witzels zu sein. Man kann nicht jeden Namen nachschlagen, der auftaucht. • Was geht einem 13jährigen nicht alles ungefiltert durch den Kopf ... Alles das, schreibt Frank Witzel auf und noch viel mehr. Zum Bespiel, was der nun erwachsene Kranke selber über sich und seine Erkrankung denkt: Zitate: „Das, was ich als meine psychische Störung ...bezeichne, besteht vor allem darin...., dass ich mich normal verhalte und deshalb eine Diagnose meiner Störung von außen verhindere. Da diese Störung, wenn auch von außen nicht erkennbar, dennoch in mir existiert, war und bin ich gezwungen, mir selbst das notwendige Wissenn .... anzueignen. Auf diesem Wege nur kann es mir gelingen, miene eigene Nervenkrankheit zu diagnostizieren und entsprechend zu behandeln.“ ... „Um es noch einmal auf den Punkt zu bringen: Meine tatsächliche Störung ist von außen durch Fremde nicht zu erkennen, während das Verhalten, dessen ich mich bediene, zwangsweise bediene, zugegebenermaßen, um meine tatsächliche Störung zu heilen, von außen als Störung interpretiert wird.“ • Gesellschaftskritik ist überall reichlich vorhanden, die BRD, die DDR, die Kommunisten, Kapitalisten alle kriegen sie eins druff: Zitat: „Aber von einem wirklichen Neuanfang war nie die Rede,und das ist das wirkliche Erbe der Nazis, dass das, was sie verbrochen haben, einfach nicht aufhört, über ihr eigenes Ableben hinauszuwirken.“ • Der Leser ist begeistert und gleichzeitig traurig. Weil es so wahr ist! Leseerlebnis: Dieses Buch erschlägt einen! Es erschlägt einen vor allem wegen seiner Detailfülle, es ist mühsam zu lesen und ich habe stündlich Sterne abgezogen, die ich in den nächsten Lesestunden dann wieder draufschlug, denn „Die Erfindung“ zeitigt, wenn man die notwendige Geduld mitbringt und die Bereitschaft, sich auf dieses krude Lese-Experiment einzulassen, dann doch Wirkung. Die Beobachtungen Frank Witzels sind trotz seiner Bandwurmsätze, es gibt auch ganz knapp gehaltene Aussagen und lange und kurze Kapitel, einfach zu scharf und zu klug, als dass man das Buch nur wegen mangelnden Lesevergnügens herunter rezensieren sollte. Mit Unterhaltung im üblichen Sinne bekommt man es mit „Der Erfindung“ nicht zu tun, doch bietet das Buch trefflich Stoff zum Diskutieren und Kommunizieren. Eine Meisterleistung, die fasziniert und auch ermüdet. 200 Seiten weniger hätten mir als Leserin gut getan. So weiß ich nicht genau, welcher Eindruck überwiegt. Ich habe mich teilweise ganz schön durchbeißen müssen. Fazit: Man sollte sich für das Buch möglichst viel Zeit nehmen, es ist kein Buch für einen Rutsch: Es gibt viel zu entdecken. Dennoch kann ich das Buch nur für die Gattung "literarischer Terrier" empfehlen. Es ist eher eine Studie als ein Roman, besser gesagt, eine als Roman verkleidete Gesellschaftsstudie. Kategorie: Gehobene Literatur Verlag: Matthes & Seitz , 2015

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