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Bris Buchstoff

Posted on 21.6.2020

Jane Gardam – vor ein paar Jahren hörte und las ich den Namen einer mir unbekannten britischen Autorin überall. Ihr erstes auf dem deutschen Buchmarkt bei Hanser Berlin erschienenes Buch mit dem Titel „Ein untadeliger Mann“ reizte mich. Aber wie es so ist, ständig erscheinen neue Bücher und Gardams Roman um das untergehende Empire und die dazugehörigen Personen fand zeitlich einfach keinen Platz in meiner Leseplanung. Planung, schon alleine, dass ich meine Lektüre mittlerweile „plane“, ist ein Umstand, der mich einesteils sehr glücklich macht, da es mir zeigt, dass ich aufgrund der vielen Büchern, die ich lesen darf, um meine Meinung darüber auf unserem schönen Gemeinschaftsblog kundtun zu können, sehr privilegiert bin und meine Leidenschaft für Bücher vielleicht auch den einen oder die andere anstecken kann. Andererseits wiederum geht dadurch auch ein wenig Leichtigkeit und Genuss verloren. Es drückt schon ein wenig, wenn ich meinen Stapel der ungelesenen Bücher – mittlerweile in einer alten, wunderschönen Weinkiste mittig in unserem Wohnzimmer platziert, damit ich nur noch zugreifen muss, um den Stapel „abzuarbeiten“ – so sehe. Da schlummern noch wahre Kostbarkeiten, die aber ab und an einfach nicht zu Lesewunsch und Befindlichkeit passen. So war also Jane Gardams erster Roman in deutscher Übersetzung an mir vorbeigezogen und bereits in der darauffolgenden Vorschau des Verlags war der zweite von insgesamt drei Romanen, in denen sich immer wieder mehrere Personen spiegeln würden, beworben. Auch der dritte ließ nicht lange auf sich warten und ich hatte noch nicht einmal den ersten gelesen. Ob dieser Rasanz stellte sich bei mir das Gefühl ein, ich müsse das alles gar nicht lesen, denn wenn etwas so schnell aufeinander folgt, dann verwirrt mich das. Hätte ich mich 2015 schon ein wenig mehr mit der Autorin befasst, wäre mir klar geworden, dass sie einfach viel zu lange nicht auf dem deutschen Buchmarkt zu finden war. Was mir im Nachhinein völlig unverständlich ist. Aber so wie ich erst kürzlich im Bücherschrank bei uns ums Eck die Trilogie um Sir Edward Feathers, QC, von allen nur Old Filth genannt, seinen „Feind“ , den alles überstrahlenden Terry Veneering und die von beiden geliebte Elizabeth in nahezu ungelesenem Zustand entdeckt und gerettet habe, so ging es vielleicht auch den deutschen Verlagen: In der Masse der Erscheinungen, bahnen sich die richtig guten und wichtigen immer ihren Weg dorthin, wohin sie gehören, egal wie lange das dauert. „Ein untadeliger Mann“, das ist Eddie Feathers auf den ersten Blick wahrhaftig. Immer gut gekleidet, beste Manieren, ein Gentleman der alten Schule. Kronanwalt in Hongkong – Baurecht war sein Metier, mit dem er gutes Geld verdient hat. Seine Ehe mit Elizabeth – genannt Betty – hat nur einen kleinen Makel, der als Gerücht umgeht. Es soll da eine Affäre gegeben haben. Nicht Eddie, der allgemein und völlig gegensätzlich zu seinem ganzen Wesen Filth beziehungsweise später respektvoll Old Filth genannt wird (wie es zu diesem Namen gekommen ist, wird im Folgenden noch geklärt), sondern Betty soll da noch eine andere Liebe in ihrem Leben haben. Ja, genau, haben. Nicht vergangen sondern gegenwärtig. Und dass das nicht nur ein Gerücht ist, das macht Gardam gleich zu Beginn des Romans klar. Filth heißt ins Deutsche übersetzt Schmutz, was sowohl dem äußeren Erscheinungsbild als auch dem inneren moralischen Kompass Sir Edward Feathers, QC, so gar nicht entspricht. Er ist der Inbegriff von Aufrichtigkeit und sein Name ist das Akronym zu dem von ihm „erfundenen“ Motto zu sein: Failed In London Try Hongkong. Doch was alles tatsächlich im Leben dieses außergewöhnlichen Mannes, der sich im Ruhestand mit seiner Frau Betty in den Donheads niedergelassen hat, passiert ist, war auf keinen Fall unspektakulär. In Malaya (heute Malaysia) als Sohn britischer Expats geboren, verliert Eddie seine Mutter kurz nach der Geburt. Sein Vater, offensichtlich einerseits unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leidend, vielleicht auch an Malaria erkrankt, und andererseits unfähig, sich dem Kind zu öffnen, lässt ihn in der Obhut einheimischer Menschen, in deren Mitte Eddie sich zu einem fröhlichen, malaysisch sprechenden Kind entwickelt. Die Sprache wird er sein Leben lang behalten und lieben und im Schlaf auch gebrauchen. Doch wie viele andere Kinder von in Kolonien lebenden Verwaltungsbeamten wird Eddie im Alter von fünf Jahren in „die Heimat“, die sie ja überhaupt nicht kennen, zurückgeschickt. Dort angekommen verbringt er mit zwei entfernten Cousinen und einem anderen Jungen furchtbare Jahre bei einer Pflegefamilie, die die ihnen anbefohlenen Kinder nicht nur nicht gut behandelt. Ein nicht direkt bezeichneter Umstand führt dazu, dass die Kinder, Eddie, der Junge und seine Cousinen haben in dieser schweren Zeit mehr als nur eine Zwangsgemeinschaft gebildet, einen erneuten Verlust erleiden. Schon wieder wird Eddie verlassen – das Band, das zwischen den vier Kindern entstand, wird dennoch bestehen bleiben. Das Gefühl des Verlustes zieht sich durch Edward Feathers Leben wie ein roter Faden und lässt ihn nicht mehr los. Als er Jahre später Elizabeth trifft und sich in sie verliebt, ist es die Aussicht, in ihr einen Menschen zu finden, der ihm immer zu allen Zeiten loyal zur Seite stehen wird, die ihm eine Ehe mit ihr als das Richtigste erscheinen lässt. Und so verbindet er seinen Antrag an sie mit der Bedingung, sie möge ihn nur annehmen, wenn sie ihm versprechen könne, ihn niemals zu verlassen. Betty willigt verliebt ein, nicht wissend, dass ihr kurz darauf ein anderer Mann begegnen wird, der sie ihr Leben lang auf gewisse Weise niemals loslassen wird. Auch wenn sich das alles bisher wie eine oft schon gelesene, tragische Lebens- und Liebesgeschichte anhören mag, so muss man ganz klar sagen, das ist sie nicht. Jane Gardam besitzt die in Großbritannien offensichtlich weiter als in Deutschland verbreitete Qualität, harte Fakten mit pointiertem, bissigem aber dennoch warmem Humor zu verbinden. Und so lässt Old Filth die Leser*innen aus seiner Sicht retrospektiv, aber nicht chronologisch, in sein Leben blicken. Einmal mit der Lektüre begonnen, konnte ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Mir wuchs dieser etwas schrullig anmutende Mann so sehr ans Herz, dass – ja ich weiß, das geht nicht und es ist auch völlig verpönt – ich mich ein bisschen in ihn verguckt habe. Und das liegt vor allem auch an der großartigen Übertragung, die Isabel Bogdan hier geleistet hat. Das darf und muss man auch mal sagen. Es liegt in der Natur der Sache, dass es ein paar Leerstellen geben muss, die in den folgenden Büchern, die sich um Filth, Betty und Veneering drehen, teilweise gefüllt werden. Solche Rückbezüge erstellen zu können, erfordern großes Geschick, denn man muss sie sinnvoll einflechten, damit die Leserschaft die große Freude haben kann, sie später wiederzuentdecken. Gardam gelingt das hervorragend und ohne Fehl. Sie ist eine Meisterin der Konstruktion und der sprachlichen Gestaltung, schafft es spielend, von einem lockeren Humor in die ernste Tiefe echter Empfindungen zu wechseln, ohne den Text brüchig zu hinterlassen – und das genauso ins Deutsche zu übertragen, das ist Isabel Bogdan ebenfalls meisterhaft gelungen. Der Rahmen, den Jane Gardam um die Geschichte legt, zeigt Old Filth als Zuhörer und Beobachter seiner eigenen Lebensgeschichte, erzählt von Außenstehenden, die – wie könnte es auch anders sein – nur einen Teil dessen kennen, was sich tatsächlich zugetragen hat. Sie stößt uns Leser*innen geradezu mit der Nase darauf, dass eine Bewertung eines Lebens oder einer Person, wenn schon unbedingt nötig, nur dann möglich ist, wenn man sich im Besitz aller Informationen befindet. Also schier unmöglich, denn wer hat schon immer alle Informationen zur Hand, um ermessen zu können, ob ein Mensch glücklich oder unglücklich, erfolgreich oder erfolglos war. Und so zeigt sie uns ein Leben, das nach außen hin als geregelt und unspektakulär gilt, tatsächlich aber geprägt ist von außergewöhnlichen Begebenheiten. Ein Leben, dessen Weg für die Uneingeweihten leicht und vorgezeichnet erscheint, für den, der diesen zu beschreiten hatte, jedoch durchaus erkämpft werden musste. Vieles könnte noch über „Ein untadeliger Mann“ gesagt werden, aber eines ist das Wichtigste: Solltet ihr die großartige, scharfsinnige, genaue und humorvolle Beobachterin und Autorin noch nicht kennen, dann habt ihr, so wie ich, das große Glück eine neue Lieblingsautorin zu entdecken. Fangt mit Old Filth an, man kann die Bücher auch unabhängig voneinander lesen, aber vertraut der Autorin, haltet die von ihr vorgegebene Reihenfolge ein, denn sie wusste sehr genau, was sie tat.

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