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schnaeppchenjaegerin

Posted on 17.6.2020

In der Nacht vom 2. auf den 3. Mai 1977 verschwindet die 16-jährige Lydia spurlos. Bald darauf wird sie tot im See in der Nähe ihres Elternhauses gefunden. Die Eltern sind fassungslos und entsetzt. Vor allem Mutter Marilyn kann nicht glauben, dass die Polizei den Tod ihrer Lieblingstochter als Selbstmord einstuft. Lydias älterer Bruder Nath vermutet, dass sein Mitschüler Jack, mit dem Lydia zuletzt zusammen war, Schuld am Tod hat. Nur die jüngste Hannah kann erahnen, was die Gründe für einen Suizid gewesen sein könnten. Auf der Suche nach Wahrheit geht jedes Familienmitglied anders mit der Trauer um. Sie finden keinen gemeinsamen Weg, um sich gegenseitig Halt zu geben und es scheint, als würde sich wiederholen, was im Sommer 1966 geschehen ist, als die Familie fast zusammenbrach. Der Roman beginnt mit der Nachricht des Todes von Lydia, dem Unglauben, der Fassungslosigkeit und der Trauer der Familie Lee. Sodann erfolgt ein Rückblick in das Jahr 1958, als Marilyn und James sich kennenlernten und trotz aller Vorbehalte heirateten. James war nicht nur der Professor von Studentin Marilyn, sondern zudem ein Sohn chinesischer Einwanderer und Mischehen waren zur damaligen Zeit nicht nur verpönt, sondern in manchen Bundesstaaten sogar verboten. Eine frühe Schwangerschaft beendet Marilyn Karriereambitionen vorzeitig. Marilyns Hoffnungen beruhen auf ihrer ältesten Tochter Lydia. Ihr soll die Welt offen stehen, sie soll alle Möglichkeiten haben, Naturwissenschaftlerin zu werden. James fühlte sich sein Leben lang andersartig und wie ein Mensch zweiter Klasse. Für Dritte ist offensichtlich, dass James kein Amerikaner ist. Ähnlich verhält es sich mit seinen Kindern, die als einzige Asiaten in der Schule auffallen. Enttäuscht von Nath, der sich nicht gegen das Mobbing von Mitschülern wehrt, setzt James auf Lydia, die viele Freundinnen haben und beliebt sein soll. "Was ich euch nicht erzählte" ist ein Roman über Träume, große Erwartungen und verpasste Chancen, bei dem man als Leser nur fassungslos dabei zusehen kann, wie die Familie blind in die Katastrophe steuert. Lydia ist der Lebensmittelpunkt der Familie, während die empfindsame jüngere Schwester Hannah schier unsichtbar ist überhaupt nicht wahrgenommen wird. Naths sehr gute schulische Leistungen werden dagegen kaum anerkannt oder als selbstverständlich betrachtet. Die gesamte Liebe der Eltern, aber auch alle Erwartungen lasten auf Lydia, was sie innerlich zerreißt. Sie möchte ihren Eltern gefallen, ihnen Freude bereiten und hat Angst, sie zu enttäuschen, denn die Folgen könnten unerträglich sein. Neben dem Leistungsdruck, der auf allen Familienmitgliedern zu lasten scheint, hadern sie mit ihrer Andersartigkeit und sehen sich mit Diskriminierungen und Alltagsrassismus konfrontiert. Auch wenn sich seit den 1950er- bzw. 1970er-Jahren hinsichtlich der Gleichberechtigung der Menschen unabhängig ihrer Herkunft und Rasse getan hat, sind es keine Probleme der Vergangenheit, mit denen die Familie zu kämpfen hat. Die Familientragödie ist authentisch und zeitlos und konnte mich wie bereits schon "Kleine Feuer überall" begeistern. Es ist eine empathisch geschilderte, sehr berührende Geschichte, die fesselnd erzählt ist und die ich fast an einem Stück gelesen habe. Die Charaktere sind nahbar und die Sorgen und Hoffnungen jedes einzelnen können leibhaftig nachempfunden werden.

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