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daslesendesatzzeichen

Posted on 12.5.2020

Ein paar Tage vor dem Lockdown in Deutschland war ich noch mit meinen Kindern im Museum. Eine Sache, die ich zwar liebe und gern mache, aber doch nicht oft genug. Einfach so in den Ferien an einem langen Donnerstag die Kinder ins Auto packen, in die Innenstadt fahren und Kultur tanken – eine viel zu selten genutzte Art der Freizeitgestaltung, aber an diesem Tag wurde der Plan in die Tat umgesetzt! Wir leben in Hamburg, haben also die Qual der Wahl und entschieden uns damals für das wunderbare Museum für Kunst und Gewerbe. Das geschah vorallem deshalb, weil ich eine Woche zuvor am Bahnhof angekommen war, noch zwei Stunden Zeit hatte, bis Mann und Kinder von den Großeltern zurückkamen, und beschloss, diese Zeit im Museum zu verbringen. Das Plakat zu „Sagmeister&Walsh – Beauty“ stach mir besonders ins Auge und so fiel meine Wahl darauf! Ich war derart verzaubert von der Ausstellung, die sich im allerweitesten Sinne mit allem befasst, wo Schönheit ein Wörtchen mitzureden hat, dass ich sie meinen Kindern zeigen wollte. Heute kommt es mir vor wie ein Fingerzeig des Universums, das mir noch einmal das Vergnügen gönnen wollte, Schönheit, Inspiration und Energie zu tanken, bevor für lange Zeit die Kultur in allen Sparten ihre Schotten dicht machen musste. Merkwürdigerweise kaufte ich, völlig untypisch für mich, auch noch den Ausstellungskatalog – im Nachhinein wieder als Zeichen deutbar, aber ich hör schon auf … 😉 Genau diesen Ausstellungskatalog möchte ich Euch heute vorstellen. Er ist genauso wunderschön, anregend und inspirierend wie die Ausstellung selbst und geht textlich weit über die Informationen hinaus, die im Museum zu lesen sind. Der Katalog wurde ausgezeichnet mit dem Certificate of Typographic Excellence vom Type Directors Club New York und ist jeden Cent wert. Über das Buch (und somit auch die Ausstellung) sagt der Verlag selbst: Jahrhundertelang strebten Kunst und Gestaltung nach Schönheit. Dann wurde Ornament zum Verbrechen – und Funktion übernahm die Führung. Nach einer überbordenden Schönheits-»Orgie« im 19. Jahrhundert erklärte Adolf Loos in Wien das Ornament zum Verbrechen. Gut 100 Jahre später laden Stefan Sagmeister und Jessica Walsh Sie ein, die Schönheit zu wieder zu entdecken. Treffender hätte ich es nicht beschreiben können. Schönheit ist überall zu finden: in Form von Menschen, von Dingen, von Tieren, Gebäuden, Landschaften, schlichtweg in allem, was uns vor Augen kommt. Schönheit liegt im Auge des Betrachters heißt es und so hat sich auch der Begriff der Schönheit über die vielen Jahrhunderte immer wieder verändert – man denke nur an die unterschiedliche Wahrnehmung von Schönheit bezüglich Frauenkörpern – dargestellt von Rubens (1. Hälfte des 17. Jahrhunderts) oder repräsentiert durch Twiggy (60er-Jahre des 20. Jahrhunderts). Eklatanter kann ein Unterschied kaum sein! Die beiden Designer Stefan Sagmeister und Jessica Walsh reißen viele Themen an, gleich zu Beginn bringen sie den charmanten Vergleich, wie oft der Begriff „Schönheit“ zu unterschiedlichen Zeiten in Büchern verwendet wird und wurde. Während um 1800 die Hochzeit des Begriffes in der Literatur war, begann kurz nach Beginn des 20. Jahrhunderts dessen Niedergang. In den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts hatte der Begriff seinen Tiefpunkt, was die Häufigkeit der Erwähnung in einem Buch anging. Warum „Schönheit“ nicht mehr so gern benutzt wurde und wird, erklären die beiden Designern sich dadurch, dass der Erste Weltkrieg derart brutal war, dass der Glaube an die vermeintliche Zivilisation der beteiligten Nationen plötzlich infrage gestellt war. Die ehemals so hochgehaltenen Werte verblassten angesichts des Elends, das die Männer an der Front erleben mussten, wo Abschlachten an der Tagesordnung war. Wo sollte da noch Platz für so banale Dinge wie Schönheit sein, wenn es nur noch ums blanke Überleben ging? Und so fand die Schönheit nun auch keinen Stellenwert mehr in der Kulturwelt. Schnörkel, Ornamente, „Firlefanz“ wurden verbannt – der Bauhaus-Stil zeigt anschaulich, wie schlicht man Dinge gestalten kann. Doch bereits hier beginnt schon wieder die Diskussion über Schönheit, denn was für den einen kalt und abstoßend wirkt, ist für den anderen eine neue Art von Schönheit. Schlicht muss nicht hässlich bedeuten. Das Buch und die Ausstellung arbeiten viel mit Umfragen, mit Gegenüberstellungen: „Wie finden Sie das hier? Bewerten Sie! Welche Farbe ist am schönsten? Welche Form?“ In der Ausstellung bekommt jeder Besucher zum Ticket einen Karton in Form eines Lesezeichens, in dem sich mehrere herauspressbare Münzen befinden. Bei den in der Ausstellung auftretenden Umfragen darf der Besucher dann zur Wahl seines Favoriten immer eine Münze einwerfen, auf der Rückseite der Umfragetafel sieht man dann, wie viele Leute bereits Münzen bei welchen Favoriten eingeworfen haben. Es gibt aber auch andere Arten von Gegenüberstellung. Hier zum Beispiel der Vergleich zwischen Stationen der Münchner U-Bahn (links) und Stationen der Moskauer U-Bahn (rechts). Hier werden wohl die meisten Betrachter das Gleiche fühlen: Irgendwie muten die unterirdischen Bahnhöfe der russischen Metropole deutlich spannender an als die der bayrischen Hauptstadt … Schön auch die Beispiele (leider keine Abbildungen vorhanden), wie Städtearchitekten aus „Unorten“ wie einer Unterführung durch geschickte Beleuchtung in warmen unterschiedlichen Farbtönen einen Ort machen, den man tatsächlich gerne mal betreten würde. Wunderbar auch die Dokumentation, wie in Rio de Janeiro mit wenig Mitteln große Wirkung erzielt wurde: Das Favela Painting Projekt wurde ins Leben gerufen und Künstler und Bewohner arbeiteten infolge gemeinsam an der Verschönerung ihres Viertels. An den meisten Orten wurde festgestellt, dass die Kriminalitätsrate alleine dadurch sank, dass alles bunter, schöner war und die Menschen das Gefühl hatten, etwas wurde für sie getan. In unruhigen Zeit wie diesen, in denen Kultur nicht mehr unmittelbar vermittelt werden kann wegen des Corona-Virus, ist es für mich ein großes Glück, in diesem herrlichen, positiven und inspirierenden Band zu blättern. Wie traurig für die Ausstellung im heimischen Hamburg, dass sie derzeit nicht besucht werden kann – umso dringender möchte ich allen, die die Kunst vermissen, ans Herz legen, sich dieses Kleinod der Druckkunst zu holen. Ein Augenschmaus, ein Energiebooster und Balsam für die Seele!

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