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anne_hahn

Posted on 30.4.2020

Romane mit Fußnoten: Familienroman Sie läuft über die Wolken und denkt, dass alles möglich ist. Sie denkt, dass sie denkt, und sie ist nicht dumm, sondern sehr weit oben. Und es ist Frühling. Drei Jahre und 172 Seiten brauchte Ivana Sajko, um die Geschichte ihrer Familie, ihrer Heimatstadt Zagreb und (mindestens) jener fünfzig Jahre aufzuschreiben, die im Untertitel des Familienroman – Die Ereignisse von 1941 bis 1991 und darüber hinaus enthalten sind. Es ist ein Roman und ein poetischer Abriss Jugoslawiens, wie ich ihn noch nie gelesen habe. Knapp, literarisch und sachlich zugleich. Mit Anmerkungen versehen, die Quellen aufzeigen oder Fakten zufüttern, einfühlsam übersetzt von einer alten Häsin des Metiers – Alida Bremer. Hoch und höher, genau wie sie fliegt, von oben ist die Perspektive optimistischer, es scheint, dass die kommunistische Revolution den Durchmarsch der imperialistischen Mächte aufhalten wird, dass der Krieg Zagreb nie erreichen wird und dass sowohl die Kinder als auch die Katzen und auch die Tauben und auch die Cafés auf ihren alten Positionen bleiben werden. ... Und dann fallen sie. Romane mit Anmerkungen sind mir bisher selten in die Hände gefallen, ich kann mich besonders an drei erinnern: Die gleißende Welt von Siri Hustvedt, 89/90 von Peter Richter und Neue Leben von Ingo Schulze. Während ich sie bei Siri Hustvedt als erweiterte Ebene liebte, störten mich die Anmerkungen bei Peter Richter manches Mal als artifizielle Herauslösungen aus dem Textfluss. Bei Ingo Schulze schienen sie mir eine gelungene Mischung aus faktischen und spielerischen Kommentaren der Herausgeber-Figur. Ivana Sajko lässt die Deutschen noch ohne Fußnoten einmarschieren und das Mädchen nach dem Absturz aus dem kindlichen Himmel über Zagreb als Partisanin in die Wälder ziehen, während ihre Mutter versteinerte Muscheln aus dem Schlammboden des Gartens kratzt und vom pannonischen Meer säuselt, auf welchem sich die Stadt einst gründete. Auf dem Meeresboden. Die Autorin bediente sich verschiedener Dokumente, Bilder und Videos, sie las einschlägige Geschichtsbücher (die sie im Roman in Fußnoten nennt) und führte Gespräche mit ZeitzeugInnen, die nicht nur aus ihrer eigenen Familie stammten. Eben diese Lektüren, die Erforschung der Geschichte Zagrebs und Kroatiens sowie die Gespräche spiegeln sich im Stil des Romans wider. Führt Alida Bremer in ihrem mit Abbildungen und Film-Zitaten gespickten Fußnoten-Essay aus, der auf der Verlagsseite von Voland & Quist zu finden ist und uns dankenswert tief in ihre Werkstatt einblicken lässt. Ivana Sajko wurde 2018 gemeinsam mit ihrer Übersetzerin für ihren Liebesroman mit dem Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt ausgezeichnet. Neben Ivana Sajko übersetzte die aus Split/Kroatien stammende Autorin und Vermittlerin Alida Bremer für den Verlag Voland & Quist unter anderem die Bücher von Edo Popović (dessen Kalda für mich noch immer einer der besten Versagerromane aller Zeiten ist). Pst. Und alles wird wirklich still. Und alles ist plötzlich in bester Ordnung. Sie legt geräuschlos Steine auf das weiche Moos. Doch trotz der Metapher ist völlig klar, was geschieht, und warum das niemand niemand niemand wissen darf. In der Schullektüre meiner Generation, die voll war von Titeln zu Themen aus dem Leben der Partisanen und dem Volksbefreiungskampf, gab es keine einzige Liebesgeschichte. Es passiert, aber es darf nicht sein. Ivana Sajko schreibt die Liebesgeschichte der beiden Partisanen, die ihre verstummten Vorfahren sind, ein in die Erzählung des Zweiten Weltkrieges aus Sicht der Kroaten, der Zagreber, einer Handvoll Menschen. Hier beginnen die Fußnoten und wir können verifizieren, wie das war. Wie die Deutschen kommen und gehen, von Kollaborateuren, der Ustascha und den Partisanen – von Siegern und Besiegten, Folter und Tod. Von Glocken, die in den Ohren weiterhallen, Denkmälern und Liedern. Den Neubauten in Zagreb, der Flut, den Studentenunruhen und einer Flugzeugentführung kroatischer Emigranten in den USA unter Anleitung eines Zvonko Bušić. Fußnote 41: ... Bušić verbrachte zweiunddreißig Jahre im Gefängnis. Er wurde 2008 entlassen und in Begleitung von amerikanischen Agenten nach Kroatien zurückgeführt, wo er im September 2013 Selbstmord beging. Ich wiege mich noch in der Verblüffung der ersten Lektüre und sehr alleinstehenden Sätzen wie diesen: Tito ist tot.

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