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Bris Buchstoff

Posted on 23.4.2020

” … Von uns dreien, sagte er, hatte Ted am meisten zu erzählen gehabt. Vielleicht war es zu viel gewesen, um es in Worte zu fassen. Ein Mann der die letzten zwanzig Jahre seines Lebens damit verbrachte, Farbflecken einen Sinn zu geben, hatte eine Menge zu erzählen. …” Wie Theodore Boychuck, eine der Hauptfiguren des grandiosen Romans Ein Leben mehr hat auch die in Deutschland bisher noch unbekannte Autorin Jocelyn Saucier einiges zu erzählen. Der Unterschied zwischen Boychuck und Saucier? Boychuck malt mit Farben, Saucier malt ihre Bilder mit Worten und das in einer schlichten und dennoch bezaubernden Art und Weise. Das Leben von Boychuck ist geprägt von seinen Erlebnissen im Jahr der großen Brände von Matheson. 1916 ist der junge Ted 15 Jahre alt. Seine Familie verliert er durch die verheerenden Brände und irrt dennoch – blind durch das Feuer – offensichtlich auf der Suche nach jemandem durch die verwüstete Gegend. Eine offene Wunde nennen ihn die Menschen, denen er begegnet ist und die wie er zu den wenigen Überlebenden dieser Katastrophe gehören. Dennoch findet er einen Ort, an dem er leben kann: die Gemeinschaft am See. Sie besteht aus ihm, Tom und Charlie, drei alten Männern, denen jeweils ein Leben mehr “geschenkt” wurde. Ihre Hütten stehen tief im Wald, nur wenige Menschen wissen um die Gemeinschaft und um den Weg, dorthin zu gelangen. Aus gutem Grund hüten sie ihr Wissen streng und geben es nur an vertrauenswürdig erscheinende Menschen weiter. Menschen wie die Fotografin, die die Überlebenden der großen Brände porträtieren möchte und sich deshalb auch auf die Suche nach dem Mann begibt, der durchs Feuer geirrt war. Wonach mag er gesucht haben? Jocelyn Saucier weiß es, lässt es anklingen, doch für die Auflösung des Rätsels braucht es die Erweiterung der Gemeinschaft durch eine Frau, die selbst mit ihren über 80 Jahren noch nie ein eigenes Leben hatte. Zunächst ein wenig ratlos, wohin Saucier ihre Geschichte um diese kleine verschworene Gemeinschaft am See und die dazu stoßenden Frauen treiben lassen wollte, war ich letztendlich von dem Moment an von diesem literarischen Kleinod verzaubert, als ich meine Gedanken beiseite schob und einfach genussvoll las. Den wechselnden Perspektiven und Erzählsträngen folgte, die großen Brände mit den unterschiedlichen Überlebenden überstand, vor allem aber Boychucks Darstellungen mit entschlüsselte. Zwischendurch gesellte sich auch die Autorin dazu – brachte Einschübe ein, die manchmal fast wie die Gedanken zu ihrer eigenen Konzeption anmuteten, sie nahm mich an die Hand und führte mich über die Wege, die das Leben nicht immer gerade und zielgerichtet für uns bereithält. Es passierte etwas, das mich, eine von feinem Lesestoff – Abhängige sehr beglückt zurückließ: ein wunderbares Mäandern zwischen den Zeiten, den Personen, den Erzählsträngen, schlicht der unglaublich komplexen Romankonzeption. Und das auf nur knappen 192 Seiten! Deshalb sollte man dem Klappentext des Buches, der die berückende Vielschichtigkeit dieses literarischen Glücksfalls nicht zu fassen bekommt – denn das ist schier unmöglich – diese leichte Unzulänglichkeit nicht nachtragen. Ich wünsche mir auch die anderen drei Romane der in einem Zehn-Seelen-Dorf im Wald lebenden Autorin in deutscher Sprache – so einfühlsam übersetzt, wie Ein Leben mehr. Es gäbe noch viel mehr zu sagen, zu dieser Vielschichtigkeit, der Sprache des Romans und der überzeugenden Konzeption, doch ich vermag es schlicht nicht, ohne mich zu verheddern. Das überlasse ich lieber den vielen Lesern, die ich dieser literarischen Entdeckung wünsche. Nur noch eines: Ein Leben mehr steht nun direkt neben Stoner im Bücherregal. .. Man ist frei, wenn man sich aussuchen kann, wie man lebt.” “Und wie man stirbt.”

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