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awogfli

Posted on 10.3.2020

Eines gleich vorweg. Die Geschichte ist für mich kein „typischer“ McEwan Roman wie zum Beispiel Abbitte, Honig oder der Zementgarten, sie ist recht kopflastig mit sehr vielen ethischen und moralischen (ich verwende diese beiden Begriffe in diesem Fall tatsächlich nicht als Synonyme) Implikationen, die den Plot über weite Strecken in den Hintergrund drängen. Gerade deshalb und weil ich mich in meinem Fachgebiet gerade mit digitaler Ethik und Ethik von künstlicher Intelligenz beschäftige, war ich sehr gespannt auf das Buch. Ich muss sagen, ich finde es sehr gut, kann aber auch verstehen, warum einige mit der Story einfach nicht warm werden können. Was hier wahrscheinlich manche stört, ist der Umstand, dass der Plot den ethischen und wissenschaftlichen Hypothesen folgt und nicht umgekehrt ein bisschen moralischer Hintergrund in eine präsente Geschichte eingewoben ist. Es ist, als hätte McEwan zuerst wie bei einer wissenschaftlichen Arbeit Forschungsfragen formuliert und sich dann drum herum eine Geschichte dazu ausgedacht: zum Beistpiel: Wie funktioniert maschinelles Lernen im Vergleich zu menschlichem mit der Einführung der Figur eines Kindes. Ich finde, das ist ein sehr gewagtes und grandioses Konzept. Aber zuerst noch ein bisschen etwas zum Inhalt damit ich diese Strategie auch gleich ein bisschen konsistent anhand von Beispielen erklären kann. McEwan platziert seine Figuren in einer alternativen Welt von 1982, in der sich der Logiker Alan Turing nicht mit dem Schneewittchen-Apferl (so wie in der Realität) selbst gemeuchelt hat. Ergo schlug er – quasi in der realen if-then-else Verzweigung im Jahr 1952 die Möglichkeit der Wahl einer chemischen Kastration in Folge seiner Verurteilung wegen Homosexualität aus und hat stattdessen den Weg der gesellschaftlichen Ächtung, Schande und des Gefängnisses gewählt. Daraus folgten anstatt seines frühen Todes einige der produktivsten wissenschaftlichen Arbeitsjahre, inklusive Inspiration von anderen Wissenschaftlern und universitäre Open-Source-Zusammenarbeit weltweit. Daher gibt es in dieser Welt auch alles, was seit 2004 bei uns erst jetzt Realität ist, durch Turings Erfindergeist schon im Jahr 1982: Internet, KI (Künstliche Intelligenzsysteme), Androiden, selbstlernende Algorithmen, selbstfahrende Autos… . Das ganze Alternativuniversum ist technologisch-wissenschaftlich grandios konsistent aufgebaut. Besser kann man nicht erfinden, wie ein einzelnes, winziges Ereignis, eine kleine Gabelung in der Realität sich tatsächlich weltweit so massiv auswirken kann. Eines muss ich hier noch loswerden. Der Diogenes Verlag spoilert bedauerlicherweise massiv in seinem eigenen Klappentext. Da ich diesen nie lese, konnte ich gottseidank in den Genuss kommen, erst nach und nach zu realisieren, was mit der vom Autor beschriebenen Welt irgendwie irritierend und mit meinem Bild vom Lauf der Welt nicht vereinbar ist. Also ich wäre enttäuscht gewesen, wenn mir diese Erfahrung genommen worden wäre. Im alternativen Großbritannien von 1982 ist ansonsten zum Beispiel politisch, gesellschaftlich und kulturell vieles ähnlich wie im tatsächlichen Jahr 1982. Maggie Thatcher mischt mit, der Falklandkrieg bricht aus, aber trotzdem funktioniert die Welt in allen Belangen um eine Nuance anders, da die technologischen Möglichkeiten und die Auswirkungen der Digitalisierung auf den Faktor Arbeit und die Politik einfach völlig neue Rahmenbedingungen schaffen. In dieses Umfeldkonstrukt, das ich deshalb in der Rezension so detailliert thematisiert habe, weil auch McEwan den Schwerpunkt darauf gelegt hat, bettet der Autor nun eine Geschichte ein. In der ersten Szene hat Charlie den Androiden Adam, einen sehr teuren Prototypen einer Miniserie, mit seiner letzten Barschaft aus einer Erbschaft erworben. Er ist in seine Nachbarin Miranda verliebt und bittet sie, mit ihm gemeinsam die künstliche Intelligenz von Adam gleich nach seiner Lieferung zu parametrisieren. Die Idee, die einstellbaren Eigenschaften von Adam gleichmäßig und zufallsverteilt zwischen Miranda und Charlie aufzuteilen ist genial, das hat etwas zwingend Logisches und die Anmutung von geschlechtlicher Zeugung. Adam ist also frei parametrisierbar. Is this a Bug or a feature? Für Charlie eher ersteres, aber dann stellt sich heraus, die Einstellungsmöglichkeiten sind ohnehin hauptsächlich dazu da, dem Nutzer eine Anmutung von Kontrolle zu geben, um ihn an das Konsumprodukt, an den Androiden zu binden, denn das Ding konfiguriert sich ohnehin selbst durch maschinelles Lernen. Ist wie bei echten Kids dort heißt das Modelllernen. – Das ist ein ganz köstlicher und sensationeller Einstieg in die Geschichte. Dann werden, je mehr Adam lernt und sich als Android dem menschlichen Wesen annähert, tatsächlich fast alle Forschungsfragen, die ich zu dem Thema habe, anhand der Geschichte abgearbeitet: Da geht es um topaktuelle Gedanken zur Roboterethik, Eifersucht, Liebe und Rivalität zwischen Charlie und dem Androiden, denn Miranda schnackselt tatsächlich mit Adam. Großartig, der daraus sich entspinnende Dialog über Betrug, Eifersucht und den Turing Test. „Ich will Dich nur daran erinnern, dass er eine Maschine ist, eine verfickte Maschine.“ „Eine fickende Maschine.“ […]. „Wenn er aussieht, sich anhört und benimmt wie ein Mensch, ist er für mich auch einer.“ Da wird man stark an Philip K. Dick‘s Träumen Androiden von elektrischen Schafen (Blade Runner) erinnert, aber McEwan geht noch ein paar Schritte weiter, um das Verhalten, das Lernen und Bewusstsein von künstlicher Intelligenz genau zu erforschen und den Unterschied und die Interaktion mit realen Menschen herauszuarbeiten. So führt er auch den Unterschichtsjungen Mark in das Setting ein, der mit seinem kindlichen Lernen durch Spielen und durch sein impulsives Verhalten das Thema sehr genau aufgreift. Mark entpuppt sich quasi als das zweite zur Adoption stehende Wesen, das diametral entgegengesetzt zu Adam agierend in den kleinen Familienverband von Charlie und Miranda eingeflochten wird. Durch die Aufarbeitung von Mirandas Vergangenheit spricht McEwan auch viele moralische Dilemmata an, die von Androiden mit Bewusstsein und Menschen komplett unterschiedlich interpretiert und abgewickelt werden. Hier gibt es immer den Gegensatz zwischen Adam, der einerseits auf Grund des tatsächlichen menschlichen Verhaltens und seiner Ambivalenz maschinell lernt, aber auch andererseits in seiner logischen Grundprogrammierung sich (meist) an die Asimovschen Gesetze halten muss, im Zusammenspiel und Interaktion, in der Diskussion und im Konflikt mit seinen Menschen, die er mittlerweile innig liebt. Die wichtigste Frage dieser Fiktion ist aber: Wenn Androiden ein Bewusstsein haben – was der Leser in dieser Geschichte eindeutig mit Ja beantworten muss – welche Rechte entstehen ihm dadurch gegenüber dem Menschen? Irgendwann ab der Mitte wird dann auch noch Alan Turing in Persona und als Fürsprecher und moralische Instanz für die Androiden in den Roman eingeführt, das hat mir ausnehmend gut gefallen. Gegen Ende der Geschichte überschlagen sich dann die Ereignisse – das ist übrigens typisch für eine McEwan Geschichte – und gipfeln in einem für mich sehr traurigen Ende für die vierköpfige Familie. Ich war als Leserin immer wieder hin und her gerissen, für die einzelnen wundervoll gezeichneten sehr sympathischen Figuren Partei zu ergreifen und litt mit allen extrem mit, obwohl sie sich in einem unüberbrückbaren Konflikt gegenseitig aufreiben und fertig machen. Jedes Motiv konnte ich sehr gut nachvollziehen. Fazit: Ich fand den Roman außergewöhnlich, sehr innovativ und großartig, aber ich glaube, man muss schon ein bisschen Interesse für Digitalisierung, Ethik und Technikgeschichte mitbringen, um ihn wirklich genießen zu können. Einen typischen rasanten McEvan Plot gibt es zwar schon, aber er steht für mich nicht im Vordergrund der Aussage des Buchs.

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