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Buchdoktor

Posted on 28.9.2022

Auch mit 70 Jahren putzt Tova Sullivan noch jeden Abend im Aquarium von Sowell Bay am Puget Sund. Die verwitwete Tova behauptet zwar, der Job wäre ein willkommener Zeitvertreib; im Geheimen ist sie jedoch überzeugt davon, dass niemand die Aquarienhalle so sorgfältig wischen würde wie sie. Ohne ihren kürzlich verstorbenen Mann und ihren vor 30 Jahren verschwundenen Sohn Erik ist Tova einsam und zugleich zu schüchtern, um sich eine andere Lebensform vorzustellen. Den Pazifischen Riesenkraken Marcellus und Tova verbinden eine besondere Freundschaft und ein Geheimnis. Marcellus mag die vorgeschnittenen Fische nicht, mit denen er gefüttert wird. Er zwängt sich jeden Abend aus seinem Bassin, um aus anderen Becken Muscheln und Seegurken zu vertilgen oder neugierig den Pausenraum zu durchsuchen; Tova gibt vor, das nicht zu bemerken. Der Krake, der vor Jahren verletzt im Aquarium aufgenommen wurde, hat nur eine Lebenserwartung von 4 Jahren – jedes Kapitel zählt seine verbleibenden Lebenstage herunter. Fast schon zu menschlich, ist Marcellus sich seiner schwindenden Lebenskraft bewusst. Kraken sind intelligent, ungeheuer beweglich und sehr sensibel. Marcellus ist darüber hinaus ein sehr guter Beobachter, der sich wundern muss, wie ungeschickt die Menschen sich anstellen können, die er aus seinem Bassin heraus beobachtet. Als Tova bewusst wird, dass ihr Strick-Kränzchen in rasantem Tempo schrumpft und sie selbst nicht mehr lange allein in ihrem Haus wohnen kann, greift Marcellus überraschend in die Schicksale mehrerer Menschen in Sowell Bay ein. Dass die Karten aller Beteiligten neu gemischt werden, lässt erwarten, dass sich mehr als ein Lebensweg noch zum Guten wenden wird. Als sich aus Kalifornien Cameron Cassmore auf den Weg macht, um in Sowell Bay endlich seinen Vater zu suchen, den er nie kennenlernen konnte, kommt eine neue Karte ins Spiel. Tovas Weg kreuzt im Aquarium den Camerons, der bisher noch jeden Job nach wenigen Tagen geschmissen hat. Auch im Leben von Ethan aus dem Supermarkt, Avery aus dem Wassersportladen und weiteren Figuren kommt es zu stürmischen Verwerfungen, bis schließlich der schlaue Marcellus seinen großen Auftritt erhält. Sehr gemächlich startet Shelby Van Pelts Wohlfühl-Roman mit der Einführung der Figuren; in der ersten Hälfte wirken die Ereignisse noch vorhersehbar. Marcellus als Icherzähler denkt und spricht nach meinem Geschmack zu menschlich abstrakt, als müsse er der Autorin als Ausrufer dienen, der die Moral der Geschichte zu verkünden hat. Ein empfindsames Wesen wie ein Krake hätte mir gern mehr über seine Empfindungen berichten dürfen, als abstrakte Inhalte weiterzugeben. Der Blick auf weitere Figuren fällt aus dem Blickwinkel des allwissenden Erzählers. Die Moral der Geschichte: Shelby Van Pelts Figuren verrennen sich – wie vermutlich viele Menschen – auf vorgezeichneten Lebenswegen. Leider kommt nicht allen ein lebenserfahrener Krake zu Hilfe, den ich hier zu stark vermenschlicht fand.

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