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Buchdoktor

Posted on 13.9.2022

Dr. Claudia Aebischer, erfolgreiche Autorin erzählender Sachbücher, begleitet eine Delegation Kulturschaffender nach Pjöngjang zur Eröffnung einer Deutschen Bibliothek. Claudia, eine erfahrene, ergraute Aktivistin für das Bibliothekswesen, hat ihren Teilnehmern genau 4 Monate Nord-Korea-Erfahrung voraus. Sie ist jedoch in der DDR aufgewachsen; Strukturen totalitärer Staaten sollten ihr nicht fremd sein. Pjöngjang riecht für Claudia so vertraut wie die Braunkohle-Dünste der DDR. Ihre Reisegruppe besteht zum großen Teil aus Berliner Journalisten, aber auch aus jungen, hippen Existenzgründern. An ihrem Zugfenster wird an Claudia im entgegenkommenden Zug eine bemerkenswert schöne Koreanerin vorbeigefahren. Die Zuteilung eben dieser gutaussehenden Dolmetscherin für die deutsche Gruppe könnte noch verblüffen, Claudia sollte allerdings nicht überrascht sein, dass achtsprachige promovierte Dolmetscher wie Sunmi als Agenten des DVRK (Komitee für Staatsangelegenheiten der Demokratischen Volksrepublik Korea) ausgebildet sind. Die Deutschen wirken in der fremden Umgebung angespannt, messen ihre Nordkorea-Klischees an der Realität und Claudia müht sich, die Erwartungen beider Seiten zu erfüllen. Da in bestimmten Staaten Offensichtliches nicht ausgesprochen werden darf, könnte Claudia an ihren Erlebnissen durchaus Zweifel entwickeln. Den Rückblick in Sunmis Kindheit 20 Jahre zuvor hätte ich mir ebenso gut als Romanentwurf vorstellen können, mit dem Claudia sich von Kulturaustausch-Geschwafel und Touristen-Bespaßung ablenkt. Als ein Grummeln des Vulkans Paektusan den einheimischen Tourismus gefährden könnte, reist die Gruppe ab. Claudia bleibt zurück, weil das Gastgeberland von ihr eine Rede erwartet, um die ausländische Presse zu beschwichtigen. Was geschieht, wenn eine nordkoreanische Frau als „umschmeichelnder Begleitservice“ für eine ältere Deutsche eingesetzt wird, ist der groteskeske Plot, den ich in diesem Jahr gelesen habe. Der Roman lebt vom Kulturschock der Reisegruppe und von der absurden wie romantischen Beziehung der beiden Frauen. Mit Sunmis skurriler Wortwahl, die aus einem veralteten Deutschlehrbuch zu stammen scheint, habe ich mich ebenso amüsiert wie über die erzählerische Doppelbödigkeit, mit der Stichmann beschreibt, was zu sehen ist, ohne unbedingt zu erklären, was das Gesehene bedeutet. Wer DDR-Erfahrungen hat oder wem die Region an der nordchinesischen Grenze vertraut ist, wird sich köstlich amüsieren. Ein sehr deutscher Stoff, der verdient auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2022 steht.

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