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Buchdoktor

Posted on 6.9.2022

Der Erzähler, der von den rätselhaften Honjin-Morden im Jahr 1937 berichtet, hat offenbar alle Unterlagen und Zeugenaussagen zur Hand. Als Autor von Kriminalromanen versteigt er sich sogar dazu, den Bericht des Dorfarztes zu straffen, da ihm Dr. F. rückblickend zu emotional erscheint. Im Winter 1937 fand die Familie Ichiyanagi am Morgen nach der standesgemäßen Hochzeitsfeier im Schlafzimmer die blutüberströmten Leichen ihres Sohns Kenzo und der frisch angetrauten Katsuko. Wie im klassischen Closed-Room-Plot gab es weder Spuren eines Täters, der ins Haus eindrang, noch einer Person, die das Haus wieder verließ. Schauplatz und Figuren bieten Krimi-Lesern einiges zu grübeln. Der Ichiyanagi-Clan bewohnte ein abgeschiedenes Anwesen aus mehreren Gebäuden. Außer der Witwe Itoko des verstorbenen Familienoberhaupts und Kenzo als zukünftigem Familienvorstand lebten dort zwei jüngere Geschwister Kenzos und sein Cousin samt Frau und drei Kindern. Kenzos Braut war gebildet, stammte aus einer wohlhabenden Familie von Obstbauern und hatte eigenes Vermögen. Für die Frau eines zukünftigen Familienoberhaupts war sie dennoch nicht gut genug, so dass es vor der Hochzeit Auseinandersetzungen über die nicht standesgemäße Brautwahl gab. Als Europäer könnte man sich natürlich fragen, ob ein Mann, der zwar angesehener Philosophieprofessor, aber mit Mitte 40 noch unverheiratet war, für die gute Partie Katsuko standesgemäß genug war. Deren Onkel Ginzo jedenfalls zieht einen überraschenden Trumpf aus dem Ärmel. Er hat gemeinsam mit Kazuos inzwischen verstorbenem Vater in den USA gearbeitet und studiert und kennt aus der Zeit den japanischen Privatdetektiv Kosuke, der ihm zu Dankbarkeit verpflichtet ist. Kosuke eilt an den Tatort und löst das vertrackte Rätsel gemeinsam mit Dr. F. Bei einem Locked-Room-Fall können Leser zwar mitraten, müssen jedoch oft eine Lösung akzeptieren, auf die sie selbst nie gekommen wären. Seishi Yokomizo bietet hier ein klassisches Setting in großem Anwesen, mit umfangreichem Familien-Clan, der im 20. Jahrhundert noch nach Werten des 19. Jahrhunderts lebt, einen Haushalt mit diversen gefährlichen Geräten – und dann setzt auch noch frischer Schneefall ein. Für den recht kurzen Text von rund 200 Seiten jongliert Yokomizo in sachlichem Ton souverän mit drei Ebenen, der Gegenwart des Erzählers, dem Zeitpunkt der Tat und der Vorgeschichte der Figuren. Mich hat am stärksten beeindruckt, wie viel der Autor in dieser Kürze über seine Figuren zu erzählen hat. Wer historische Krimis mag und Richter Di nicht verschmähte, findet mit diesem Serien-Auftakt Futter für die Serien-Sucht.

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