Profilbild von Buchdoktor

Buchdoktor

Posted on 4.9.2022

Wie Cosimo Piovasco di Rondò, der junge Baron auf den Bäumen, kann Marie Helene Brandt von Baum zu Baum klettern, ohne den Boden zu berühren. Die Fünfzehnjährige erträgt keine Wände, keine Schuhe, keine anderen Menschen und ist deshalb immer wieder aus Pflegefamilien geflüchtet. Nur ihr Heimatbaum gibt ihr Sicherheit vor dem „Rot“, dem Unaussprechlichen, das in ihrem Elternhaus geschah. Vom Baum aus kann Marie in den Wipfeln zum Haus klettern. Sie muss es im Blick behalten, um zu verhindern, dass es auch anderen Menschen Böses tut. Natürlich darf eine Fünfzehnjährige, deren Mutter im Gefängnis ist, in Deutschland nicht auf einem Baum Leben. Die „Karierte“ und „die Gute“ vom Jugendamt reden Marie gut zu. Elena, die Gute, die ihr Sozialpädagogikstudium noch nicht abgeschlossen hat, handelt weitaus geduldiger als ihre Kollegin in der stets karierten Bluse. Erst einmal bringt sie Marie Schlafsack und Schirm, in der Hoffnung, das Mädchen würde sich irgendwann mit seinem Trauma auseinandersetzen. „Schlappe“, die früher als Pflegerin in der Psychiatrie gearbeitet hat, bringt Marie Kuchen vorbei und hat sie zuverlässig im Blick. Als eine Maklerfirma das Haus verkaufen will, kommt Jori als Sohn der möglichen Käufer in den Ort. Bei allem Gefrotzel der beiden wird er Marie ein verlässlicher Gefährte. Jori wollte nie umziehen, nur weil sein Vater mal wieder eine Immobilienspekulation im Auge hat. Marie wiederum will den Verkauf unbedingt verhindern, damit das Haus seinen neuen Bewohnern nichts Böses antun kann. Den Kaufvertrag muss Maries Schwester Lisa unterzeichnen, die schon mit 16 zu Hause ausgezogen ist, mit einem festen Partner lebt und mitten in der Ausbildung ist. Lisa soll noch dazu dem Jugendamt helfen, Marie zu bändigen und aus ihrem Baum herauszuholen. Die Neunzehnjährige hat gerade entdeckt, dass sie schwanger ist, und fürchtet um ihre Beziehung zu Paul. Warum muss sich immer alles um Marie drehen, fragt sich Lisa, wer unterstützt eigentlich sie? Durch den geplanten Hausverkauf eskalieren die Dinge; mehrere Personen können ihre Wut nur schwer bändigen: Marie, Lisa, Jori und vermutlich auch Elena, die nicht als gleichberechtigte Kollegin tätig werden darf. Über das wie ein Monster lauernde Böse hinaus und das Schicksal der traumatisierten Marie beeindrucken mich weitere Figuren. Lisa, Jori, Elena und Schlappe haben kein leichtes Leben und verdienen es, neben Marie ins Rampenlicht gerückt zu werden. Besonders Lisa, die zwar formal volljährig ist und selbstständig lebt, braucht Unterstützung, auch wenn die Jugendhilfe das formal anders einordnet. Die spannende Handlung und der empathische Stil der Autoren reißen auch erwachsene Leser mit.

zurück nach oben