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evaczyk

Posted on 2.9.2022

Von Nähe und Entfremdung Intimität kann vielerlei bedeuten - die Beziehung zwischen zwei Menschen, aber auch ein besondere Vertrautheit oder Nähe, den Einblick jedenfalls in eine/n andere/n. In Katie Kitamuras Roman "Intimitäten" wird das Thema ebenfalls auf unterschiedlichen Ebenen behandelt - zunächst, und vielleicht vordergründig, in der Beziehung einer namenlosen Dolmetscherin am Internationalen Gerichtshof in Den Haag zu ihrem Liebhaber, der noch mit einer anderen Frau verheiratet ist, die ihn allerdings verlassen hat. Zum anderen die Intimität, die durch Sprache entsteht. Denn die Amerikanerin, ein klassisches "third culture kid", hat nach dem Tod ihres Vaters New York den Rücken gekehrt. Ihre Mutter ist nach Singapur gezogen und sie stellt fest, dass sie ohne Familie in denUSA wurzel- , ja heimatlos ist. Ihr Jahresvertrag in Den Haag ist ein Testlauf, um festzustellen, ob die Niederlande ihr neues Land werden könnten, die Beziehung zu Adriaan lässt viel dafür sprechen, doch dann fliegt der auf einmal zur Noch-Ehefrau nach Portugal, um ein paar Dinge zu klären und bleibt wochenlang auf Tauchstation. Dass einer seiner Bekannten, der Anwalt Kees, impliziert, Adriaan wolle seine Ehe retten, macht es nicht einfacher. Vermeiden kann die Dolmetscherin den Mann nicht - er gehört dem Verteidigerteam in einem Fall an, in dem sie neuerdings dolmetscht. Und hier ist die zweite Ebene der Intimität, denn die Dolmetscherin ist dem Angeklagten, einem Ex-Präsidenten aus einem westafrikanischen Land, buchstäblich nahe, wenn sie ihm während der Verhandlung und bei Anwaltsbesprechungen das Gesagte ins Ohr flüstert. Ein Widerspruch entsteht für sie, denn der Mann, den sie als höflich, beherrscht, zurückhaltend erlebt, soll verantwortlich sein für ethnischen Hass, für Verbrechen jener Monstrosität, wie sie in Den Haag verhandelt werden. Der Fall erinnert an den von Laurent Gbagbo, den Ex-Präsidenten der Elfenbeinküste. Auch die Kritik, die immer wieder vor allem aus afrikanischen Staaten am Haager Gerichtshof aufkommt, wird thematisiert: Wer hat das Deutungsprimat über die Vorgänge in anderen Ländern, wo verläuft die Grenze zwischen Menschenrechtsjustiz und postkolonialer Einmischung? Für die Dolmetscherin geht es auch um Abgrenzung und Selbstschutz - wie schafft sie die Distanz zu dem dem, was in den Zeugenaussage zur Sprache kommt, lässt es nicht zu nahe an sich selbst herankommen? Wie bewahrt sie eine professionelle Haltung, wenn das, was sie hört, quälend und brutal ist? Wie lässt sich der Horror übersetzen? Es sind gerade die Gerichtsszenen, die Einblicke in die Arbeit der Dolmetscherin, die nicht Partei, aber ganz nah dran ist, in denen mich Kitamura mit ihren detaillierten Beobachtungen am meisten überzeugt. Und auch die Figur einer Frau, die im neuen Land die Chance hat, sich gewissermaßen neu zu erfinden, ist sehr interessant. Ein Abstrich ist für mich dabei, wie die Dolmetscherin bei Begegnung mit Adriaan und Freundinnen oder Kolleginnen stets argwöhnisch auf jede verdächtige Nähe, mögliche Flirterei oder eingebildetes Interesse an ihrem Freund reagiert. Da ist die Protagonistin dann unsouverän und unnötig eifersüchtig, unglaubhaft obendrein angesichts einer Beziehung, die ja selbst noch relativ frisch ist. Diese emotionale Achterbahn hätte ich nicht gebraucht.

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