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Buchdoktor

Posted on 25.8.2022

Die Kulturhistorikerin Elinor Cleghorn ist von ihrem Thema selbst betroffen. Sie erkrankte noch jung an systemischem Lupus Erythematodes (SLE). Die Krankheit wurde nach jahrelangen Fehldiagnosen eher zufällig entdeckt und hätte die Autorin vor der Diagnose bereits das Leben kosten können. Da auch andere Autoimmun-Krankheiten schwer zu diagnostizieren sind und verstärkt bei Frauen auftreten, liegt die - verkürzte - Frage nahe, ob die späte Diagnose auf das Frauenbild von Medizinern zurückzuführen sein könnte. Cleghorn geht in ihrer Betrachtung zurück bis in die Antike zu Hippokrates, als Frauenkörper bereits als fehlerhaft und unvollkommen definiert wurden und männliche Ärzte nahezu alle Erkrankungen von Frauen auf deren Gebärmutter zurückführten. Wer glaubt, dass mit verbesserter Diagnostik Mythen über den weiblichen Körper durch Fakten ersetzt würden, sieht sich jedoch getäuscht. Obwohl die Medizin im 19. Jahrhundert – teils gegen den erbitterten Widerstand der Kirchen – gewaltige Fortschritte machte, wurden Mythen nicht im Tempo des Wissenszuwachses durch Fakten abgelöst. Bis in die Neuzeit ignorierte eine androzentrische Medizin schmerzhafte Erkrankungen der weiblichen Unterleibsorgane nicht selten und forderte Frauen – offen misogyn – auf, ihr Leiden durch Ehe und Schwangerschaft zu kurieren. Bis ins 20. Jahrhundert konnte sich die verzerrte Wahrnehmung halten, dass „Frauenkrankheiten“ eingebildet wären und durch Ablehnung der bürgerlichen Frauenrolle als Ehefrau und Mutter verursacht würden. Wenn zugleich Frauen nicht zum Medizinstudium zugelassen sind und klinische Forschung hauptsächlich an jungen, gesunden, männlichen Probanden stattfindet, können Wissenslücken nur schwer gefüllt werden. Da Cleghorn sich auf die Entwicklung in den USA und Großbritannien konzentriert, stößt sie neben einer Frauen diskriminierenden Medizin auch auf die rassistische Einstellung, Schwarze hätten kein Schmerzempfinden; ihre Krankheiten wären anders als bei Weißen zudem selbst verschuldet und auf ihren Lebenswandel zurückzuführen. Der wandernde Uterus als Auslöser weiblichen Leidens wurde bereits im 11. Jahrhundert von Trota von Salerno widerlegt, die das dreibändige Lehrbuch Trotula verfasste. Cleghorns Blick in die Medizingeschichte legt nahe, dass Respekt, Empathie und Fürsorge erst im 20. Jahrhundert Einzug in die Gynäkologie hielten, als sich die Frauengesundheitsbewegung (ab 1970) und weibliche Ärzte für Frauen engagierten. Ihre Quellenstudien zeigen jedoch auch, dass (in den USA und GB) Frauengesundheit erst in den Focus rückte, als Frauen im Zweiten Weltkrieg als Arbeitskräfte gebraucht wurden und eine eklatante Müttersterblichkeit um die Zukunft dieser Nationen fürchten ließ. Cleghorn liefert zu den – bei Interessierten größtenteils bekannten - Irrwegen in der Diagnose gynäkologischer Erkrankungen ausführliche Zitate und aktuelle Quellen, und sie hinterfragt die Motive zumeist männlicher Mediziner, wider besseres Wissen an Mythen über den weiblichen Körper festzuhalten. Ärztliche Fehleinschätzungen werden u. a. verstärkt, wenn Ärzte nur wohlhabende Patienten zu sehen bekommen, da nur sie einen Arztbesuch finanzieren können. Dass ein rückständiges Frauenbild und die Ablehnung von Ärztinnen als Kolleginnen u. a. Ärzten lange Zeit üppige Einkünfte von Privatpatient*innen sicherte, das ist in Cleghorns besonnenem Buch nicht zu übersehen. Im Fall von Margaret Sanger (1879-1966), der gefeierten Aktivisten für Empfängnisverhütung zeigt die Autorin auf, dass Pionier*innen der Frauenheilkunde auch handfeste rassistische und eugenische Ziele verfolgten. Wenn Autoimmunerkrankungen (Lupus, MS, Firbromyalgie, Morbus Crohn, Schilddrüsenerkrankungen), sowie Endometriose schwer zu diagnostizieren sind und in der Mehrzahl der Fälle bei Frauen auftreten, fragt sich noch immer, ob der jahrelange Weg zur Diagnose auch mit dem „Gender Bias“ zu tun haben kann, der die Beschwerden von Frauen bagatellisiert. Elinor Cleghorn schließt mit ihrer eigenen Krankengeschichte den Kreis ihres – auch für Laien gut lesbaren – medizinhistorischen Werks. Die Beschränkung auf die USA und Großbritannien finde ich etwas unbefriedigend, weil ich beide Gesundheits- und Gesellschafts-Systeme für sehr speziell halte. Daher sehr gute 4 Sterne

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