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Posted on 4.6.2022

*ERSCHÜTTERNDER ROMAN ZUM NORDIRLAND-KONFLIKT* Nach dem höchst außergewöhnlichen Roman »Milchmann«, für den die nord-irische Autorin Anna Burns 2018 mit dem bedeutenden britischen Literaturpreis „Man Booker Prize“ ausgezeichnet wurde, ist nun auch ihr bereits 2001 veröffentlichter Debütroman „Amelia“ auf Deutsch erschienen. Er thematisiert den Nordirland-Konflikt, einem verheerenden Bürgerkrieg, der in den 1970ger Jahren seinen Ausgang nahm und in dem Autobomben, Erschießungskommandos und zahllose Tote auf beiden Seiten der Konfliktparteien den Alltag beherrschte. Nachdem ich durch die inhaltlich und stilistisch anstrengende und herausfordernde Lektüre von „Milchmann“ bereits auf einiges gefasst war, hat mich „Amelia“ mit seiner kompromisslosen Rohheit und brutalen Düsternis regelrecht schockiert und sprachlos zurückgelassen. Es ist ein aufwühlender und äußerst eindringlich geschriebener Roman, der durchaus zu fesseln weiß und gleich mit mehreren Triggerwarnungen (Suizid, sexuelle Übergriffe, Anorexie,…) versehen werden sollte Wie nachhaltig der anhaltenden Konflikt den Alltag der Zivilgesellschaft beeinträchtigt und welche psychischen Auswirkungen diese schockierende Welt voller Verrohung, Hass, permanenter Gewalt und Brutalität auf das Leben jedes einzelnen – insbesondere für Kinder und Jugendliche aus der einfachen nordirischen Arbeiterklasse - hat, führt uns die Autorin in ihrem episodenhaft angelegten Roman sehr plastisch vor Augen. Im Mittelpunkt steht die junge Amelia Lovett, die zu Beginn des Romans etwa acht Jahre alt ist und mit ihrer dysfunktionale Familie in einem katholischen Viertel in Belfast lebt. Jedes Kapitel erzählt aus einer allwissenden Perspektive eine in sich abgeschlossene Episode aus Amelias Leben über einen Zeitraum von fast 30 Jahren -beginnend mit dem Anfang der Troubles im Jahr 1969 bis hin zum Jahr der Friedensverhandlungen 1994, bisweilen stehen auch einige andere Charaktere im Fokus. Eine wirkliche Handlung sucht man vergeblich, doch werden einige Erzählstränge im späteren Verlauf wieder aufgenommen und fortgeführt. Der Autorin ist die Charakterisierung der vielschichtig angelegten und sehr faszinierenden Hauptfigur hervorragend gelungen. Wir begleiten Amelia von der Schule über ihre Ausbildung bis ins Erwachsenenleben und erleben in erschütternden Szenen hautnah mit, wie sie massiv sie nicht nur psychisch sondern auch physisch betroffen ist. Sehr unmittelbar nehmen wir Anteil an der Entwicklung vom kleinen neugierigen Mädchen und verfolgen das höchst beklemmende Schicksal von Amelia, die in all dem alltäglichen Irrsinn, der Abgestumpftheit der Menschen um sie herum und der permanenten Gewalt als ein Opfer zu überleben versucht. Szenen mit Gewaltexzessen oder sexuellem Missbrauch, die zunehmende Entfremdung von ihrer Familie, die sie zu verkraften hat, finanzielle Nöte, ihre Essstörung und Alkoholabhängigkeit bis hin zu ihren schließlich gravierenden psychischen Problemen, mit denen sie auch nach ihrer Flucht nach London zu kämpfen hat – all dies wird oft detailliert und fast zu eindrücklich beschrieben, so dass ich am liebsten mit dem Lesen aufhören wollte. Manche erschütternde Schilderungen sind auch nur aus Amelias distanzierter, abgestumpfter Sicht zu ertragen. Daneben gibt es auch extrem überspitzte, surreale Passagen, die mich in ihrer Aussage etwas verwirrten. Burns Erzählstil ist einzigartig und etwas besonderes, der aber sicher nicht jedem zusagen wird. Ihr bissiger, fatalistischer Humor, der mir in „Milchmann“ sehr gefallen hatte, ist allerdings angesichts der geschilderten, verstörenden Ungeheuerlichkeiten kaum noch wahrzunehmen. Etwas schade fand ich, dass die Autorin nicht mehr politische Aspekte und Hintergrundinformationen zum Nordirlandkonflikt in ihre Geschichte hat einfließen lassen bzw. sie nicht in einem Nachwort einige ergänzende Erläuterungen zusammengestellt hat. Um wirklich alle Details und Verwicklungen zu diesem Bürgerkrieg verstehen zu können, muss man leider vieles selbst recherchieren. Anna Burns erzählt zugleich aber auch eine nachdenklich stimmende, zeitlos-aktuelle Geschichte über höchst bedenkliche gesellschaftliche Entwicklungen, die auch auf andere Regime oder Bürgerkriegsgebiete übertragbar und somit allgemeingültig sind. FAZIT Ein düsterer, erschütternder und sehr eindringlich geschriebener Roman über das Leben im Nordirland während der „Troubles“! Eine schwierige und herausfordernde Lektüre, die mich gefesselt, aber mir auch einiges abverlangt hat!

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