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gwyn

Posted on 5.5.2022

«Sein ganzes Leben bestand aus wahllos sich überlagernden Bildern, kurzen Sätzen, lückenhaften Szenen und Anekdoten. Nichts schien vollständig zu sein, kein einziges Erlebnis in seiner Erinnerung. […] Das Erinnern war eine Last, eine harte innerliche Arbeit. Das, was früher einmal in seinen Kopf gelangt war, fand nicht mehr hinaus, war gefangen wie in einem Labyrinth, und wenn es doch herausfand, blieb es unvollständig.» Abbas Khider ist für mich einer der besten deutschen Schriftsteller. Mit diesem kleinen Roman zeigt er wieder mit ungeheuerer Wucht, kurz und prägnant, die Problematik des Zugereisten darzustellen – insbesondere, wenn er erkennbare arabische Wurzeln hat. Neben der Frage, was Heimat ist, bringt er sicherlich persönliche Erfahrungen in die Geschichte ein, die beim Lesen in die Magenkuhle krachen. Wer arabischstämmige Freunde hat, der kennt das Prozedere: Du bist bei jeder Verkehrsüberprüfung dran, am Bahnhof, am Abend beim Bummel usw.: Immer die grundlose Ausweiskontrolle. Und immer wieder die absurde Frage zum deutschen Pass: Sprechen Sie Deutsch? «Es war, als ob Saids Leben kein Leben wäre, sondern ein überflüssiger Satz in den Akten der Behörden: Jeder konnte ihn mit einer flüchtigen Bewegung wegstreichen. Es war ein wertloses Leben, nur ein Furz am Rande aller Welten.» Said Al-Wahid ist ein deutscher Staatsangehöriger, hat seinen Reisepass überall dabei, selbst wenn er nur kurz in den Supermarkt geht. Das hat seinen besonderen Grund. Er ist einstmals aus dem Irak gekommen, hat in Deutschland studiert, geheiratet, ist Vater geworden, ein gefragter Schriftsteller. Als er die Nachricht erhält, seine Mutter liege im Sterben, reist er zum ersten Mal seit Jahren in das Land seiner Herkunft. Wenn er sich erinnert, so fragt er sich, ob es wirklich so war, oder ein wenig anders oder womöglich die Erinnerung seiner Fantasie entsprungen ist. Viele Lücken tun sich auf. Das Gedächtnis ist trügerisch, emotional, verschleiert und dichtet selbstständig hinzu; Erinnerung kann schmerzlich sein, versteckt sich. Welche Erinnerungen fehlen, welche sind erfunden und welche verfälscht? Said weiß es nicht. Es ist seine Rettung bis heute. «Sein ganzes Leben bestand aus wahllos sich überlagernden Bildern, kurzen Sätzen, lückenhaften Szenen und Anekdoten. Nichts schien vollständig zu sein, kein einziges Erlebnis in seiner Erinnerung.» Said will Bücher schreiben, er versucht sich zu erinnern, an seine Zeit im Iran, an die Flucht und seine erste Zeit in Deutschland. Das Schreiben ist blockiert. Dann kommt er zu dem Punkt, dass die Erinnerung nicht wichtig ist, sondern das Schreiben selbst – es muss eine gute Geschichte dabei herauskommen. Nun fließt es aus ihm heraus. Eine Mischung aus Wahrheit und Erfundenem, gespickt mit Gefühlen. Die Geschichte ist nicht linear, Bruchstücke setzen sich wie Puzzleteile zusammen. Das Unausgesprochene hallt nach, gibt dem Roman Kraft und Tiefe. Es ist das Gefühl, nie angekommen zu sein – ein Pass ist nichts, wenn er keine Bedeutung hat. Demütigung am laufenden Band. Behördenwillkür, Rassismus, die Traurigkeit, «sein Land» nicht verständlich machen zu können, weil hier eine andere Sicht der Dinge vorherrscht – ein kompliziertes Konstrukt der Wahrheiten. Wie soll man auch etwas verstehen, zu dem man keinen realen Bezug hat? Said mit der «schattigen Hautfarbe» kehrt zurück in das Land, das heute «bärtig und verschleiert ist», weil seine Mutter im Sterben liegt. Und auch hier halten die Erinnerungen nicht dem stand, was er heute sieht. «Es gibt Orte im Gedächtnis, die sind wie Minenfelder, sie können einen in Stücke reißen. Ein Leben kann schön und erträglich sein – wenn man diese Orte meidet.» Abbas Khider unterlegt seine Geschichte wie immer mit einer guten Portion von schwarzem Humor. Es ist ein Gesellschaftsroman, der uns den Spiegel vorhält. Ein wichtiger Bestandteil in diesem Buch ist die Novelle «Die Taube» von Patrick Süskind, ein Buch, das Said immer wieder in die Finger bekommt, in den absurdesten Situationen, das er aber nie zu Ende lesen kann, weil er weiterzieht – ein Symbol der eigenen Unfähigkeit mit seinen Traumata umzugehen. Nüchtern geschrieben ohne Anklage und pathetisches Gesäusel. Die Welt ist, wie sie ist, auf der einen, wie auf der anderen Seite. Ein Roman, den man sich nicht entgehen lassen sollte! Abbas Khider wurde 1973 in Bagdad geboren. Mit 19 Jahren wurde er wegen seiner politischen Aktivitäten verhaftet. Nach der Entlassung floh er 1996 aus dem Irak und hielt sich in verschiedenen Ländern auf. Seit 2000 lebt er in Deutschland und studierte Literatur und Philosophie in München und Potsdam. 2008 erschien sein Debütroman «Der falsche Inder», es folgten die Romane «Die Orangen des Präsidenten» (2011) und «Brief in die Auberginenrepublik» (2013). Er erhielt verschiedene Auszeichnungen, zuletzt wurde er mit dem Nelly-Sachs-Preis, dem Hilde-Domin-Preis und dem Adelbert-von-Chamisso-Preis geehrt. Außerdem war er im Jahre 2017 Mainzer Stadtschreiber. Abbas Khider lebt zurzeit in Berlin. Bei Hanser erschienen von ihm Ohrfeige (Roman, 2016), Deutsch für alle (Das endgültige Lehrbuch, 2019), Palast der Miserablen (Roman, 2020) und Der Erinnerungsfälscher (Roman, 2022).

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