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gwyn

Posted on 1.5.2022

Der Anfang: «Meinst du, das ist das passende Outfit für eine Beerdigung?› ‹Mensch, das ist mein schönster Trainingsanzug … aus Samt! Und hast du dich selber mal gesehen? Schaust aus wie … Aber uns scheißegal, oder?› Hildegarde hatte recht, es war uns scheißegal. Wir kamen rüber wie zwei Junkiebräute, stimmt, aber ganz unabhängig von unserer Klamottenwahl würden uns eh alle schräg angucken.» Das Buch beginnt mit einer Beerdigung und der Leser erfährt, dass Blanche de Rigny ein großes Vermögen geerbt hat. Sie will Gutes tun, das Kapital dafür einsetzen, die Ausbeutung der Welt durch Konzerne zu bekämpfen, Vernichtung von Ressourcen, Umweltverschmutzung und Sklavenarbeit anprangern und sie möchte Meinungsmanipulatoren in den sozialen Medien verhindern. Hannelore Cayre erzählt die Story auf zwei Erzählsträngen. Die zweite Ebene ist die Geschichte von Blanches Vorfahren Auguste de Rigny. Ein verwöhnter, reicher Student, der familiär aus der Art schlägt, 1870 den Gedanken von Karl Marx und der der Pariser Kommune folgt. Im 19. Jahrhundert entstanden riesige Familienvermögen durch Ausbeutung, Imperien, die noch bestehen, heute global weiter an Ausbeutung beteiligt sind und wesentlich mehr Macht haben, als gut für den Planeten ist. Die Autorin verbindet die Zusammenhänge. «Drei Hauptfiguren in dieser Geschichte: Der Cousin selbstverständlich mit seinem eerbten Geschäftssinn. Ein dubioser russischer Schiffskapitän, ein Kohlentrimmer des Globalisierungsalters, der es gewohnt ist, seine Weisungen per Satelitentelefon zu erhalten, ohne seinen Arbeitgeber je kennenzulernen. Und natürlich Afrika. Afrika, das reimt sich auf Knete, Korruption, zur Rechenschaft gezogene Unterlinge, Straflosigkeit, Staatsstreich ... fette Tortenstücke.» Blanche de Rigby ist auf einer bretonischen Insel geboren, durch einen Autounfall im Teenageralter gehandicapt, lebt mit ihrer Tochter nun in Paris. Schwer gehbehindert muss sie den Job nehmen, der sich bietet, trotz abgeschlossenen Studiums. So landete sie in der Gerichtsreprografie, wo sie stumpf täglich Gerichtsakten einscannt, auf CDs brennt, um sie an Anwälte, Richter usw. weiterzuverteilen. Intelligent und neugierig beginnt sie interessante Fälle als Lektüre mit nach Hause zu nehmen. Dabei kommt ihr eine Geschäftsidee in den Sinn, denn ihr mageres Gehalt reicht vorn und hinten nicht, obwohl sie in einer «Microwohnung» wohnt. Sie eliminiert brisante Informationen aus den Dokumenten, stellt Listen zusammem und verhökert sie im Drogenmilieu. Und sie geht noch viel weiter – für sie im guten Sinn, um die Welt zu retten. Plötzlich taucht ihr Nachname in einer Untersuchung auf. Sie hatte sich schon immer gefragt, wie der in die Bretagne passe. Sie begibt sich auf Ahnenforschung. Ihr Urgroßvater Renan, 1871 geboren, wurde von Auguste de Rigby als Kind anerkannt; ungewöhnlich, dass ein Spross einer wohlhabenden Familie anerkannte, ein Dienstmädchen geschwängert zu haben. Nun entwickelt sich bei Blanche ein Plan: mit dem Familienvermögen könnte man eine Menge Gutes auf der Welt erreichen. Im Prinzip steht sie in der Erbfolge der Familie – dumm nur, dass ein paar Leute den Vorrang haben ... «Bis dahin still, hieb Auguste plötzlich mit der Faust auf den Tisch, dass die ganze Gesellschaft zusammenzuckte. ‹Es reicht, das ist widerlich! Perret junior soll nicht an meiner Stelle einrücken! Niemals werde ich das akzeptieren! Seine arme Familie soll nicht den Blutzoll zahlen, während wir die Mittel haben, uns für den Jahrespreis einer Opernloge loszukaufen.» Im zweiten Strang wird die Geschichte von Auguste de Rigby aufgeblättert. Ein junger Kerl mit Idealen. Zum Ärger seiner Familie hängt er in Paris in sozialistischen Gruppierungen herum, der Pariser Kommune, preist die Gedanken von Karl Marx, will er die Welt verbessern. Ein Krieg mit Preußen ist nicht zu vermeiden, und so werden alle jungen Männer zur Musterung gerufen. Am 19. Juli 1870 erklärt Frankreich Preußen den Krieg. Auguste, 1,77 cm groß, gesund und völlig ohne Makel soll eingezogen werden. Der Vater schlägt vor, einen «militärischen Stellvertreter» zu kaufen, damit dieser anstelle des Sohnes den Wehrdienst leistet. Damals eine gängige Praxis, mit der sich die Wohlhabenden sich aus staatsbürgerlichen Pflichten herauskauften. Auguste ist zunächst empört, nimmt sich den «Leitfaden für Gesundheitsoffiziere zur Beurteilung von Gebrechen und Krankheiten, die zur Dienstuntauglichkeit führen» vor. Die Liste ist lang, aber nichts trifft auf ihn zu – er könne lediglich noch den Idioten markieren; doch er traut er sich nicht zu, den Wahnsinnigen zu spielen. Wie wäre es mit «äußerste Hässlichkeit aufgrund einer abartigen Gestalt»? Zu dumm, dass die Damenwelt ihn als besonders hübsch definiert. Geifer und Inkontinenz – das würde man ihn nicht abnehmen. Was man hört vom Leben in der Armee, klingt nicht gut: das Essen, die Unterkunft ... und die Regierung bezeichnet Soldaten als «organische Reserve». Wenn es darum geht, den eigenen A... zu retten, verlässt man seine Ideale. Die Familie de Rigby setzt alle Hebel in Bewegung. Doch die Ersatzmänner sind so gut wie ausverkauft. Die Preise katapultieren in die Höhe. Auguste gerät in weitere Gefahren, die sein politisches Engagement mit sich bringt – auch hier rettet ihn die Beziehung seiner Familie und Bestechungsgeld ... «Organische Reserve, was für ein abscheulicher medizinischer Ausdruck!, dachte Auguste. Achtet das Vaterland seine Söhne denn so gering, dass es sie als reine Organreserve ansah, die man endlos plündern konnte? Und dennoch konnten diese Männer, die er hatte durch die Straßen ziehen sehen, es gar nicht erwarten, gegen die Preußen zu kämpfen. Auf nach Berlin! Auf nach Berlin!, schrien sie alle, diese Unschuldigen, diese Leichtgläubigen; bis zur Weißglut erhitztes Kanonenfutter ...» Hannelore Cayre kritisiert das kapitalistische System, das alles ohne erhobenen Zeigefinger – sie lässt die fein konzipierten Figuren handeln. Die Ausbeutung und Korruption des 19. Jahrhunderts ist ähnlich dem im 21. Jahrhundert, nur dass die Mächtigen ihre Felder global verlagert haben. Macht ist an Kapital gebunden, auch in der Demokratie; es hat sich nicht viel verändert. Reichtum verpflichtet nur zu weiterem Reichtum, so der Code des Kapitals. Dieser Noir-Kriminalroman ist tiefgründig, gesellschaftskritisch, provokant, und mit schwarzem Humor durchzogen. Ein Vergleich unserer Vergangenheit mit der heutigen Zeit. Historisch hat die Autorin fundiert recherchiert und bringt authentisch die Zeit aufs Papier: Als unmittelbarer Auslöser des Deutsch-Französischen Krieges entwickelte sich die Frage um die spanische Thronfolge. Innerhalb weniger Wochen besiegten die Verbündeten der Preußen große Teile der französischen Armeen. Kaiser Napoléon III. wurde gefangen genommen. 26. März 1871 wählten die Pariser nach großer Hungersnot einen Stadtrat, der in den nächsten Monaten die Macht übernahm und der Versailler Regierung die Anerkennung verweigerte. Die sogenannte Pariser Kommune verabschiedete eine Reihe von Beschlüssen, darunter die Abschaffung von Mietschulden. Diese Regierung wurde schnell und blutig zerschlagen. Offiziell endete der Krieg am 10. Mai 1871 mit dem Frieden von Frankfurt. Im Anhang dieses Romans gibt es eine kleine Zeittafel zu den historischen Kapiteln sowie Erläuterungen zu vielen Namen und Begriffen. Empfehlung! Hannelore Cayre ist Strafverteidigerin in Paris, Verfasserin von bisher sechs Romanen, Schauspielerin, Drehbuchautorin und Regisseurin. Früher war sie Finanzchefin einer Filmproduktionsfirma. Irgendwann langweilten sie die Finanzen, die Juristerei hingegen faszinierte sie zunehmend. Cayre spezialisierte sich auf Strafrecht und wurde Pflichtverteidigerin. Ein schwerer Unfall, nach dem sie beinahe querschnittgelähmt war, konnte ihre Energie, ihr Engagement für ihre Klientel und ihren genauen Blick für die tragikomischen Seiten ihres Berufs nicht schmälern. Für ihren vorigen Roman Die Alte (verfilmt mit Isabelle Huppert) erhielt sie den Prix du polar européen und den Grand Prix de littérature policière.

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