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evaczyk

Posted on 26.4.2022

Queerer Krimi aus Tel Aviv Israel ist das LGBTQI-freundlichste und toleranteste Land des Nahen Ostens (was an sich keine Kunst ist angesichts der homophoben Gesetzgebungen und Gesellschaften in den Nachbarländern) - in der Küstenmetropole Tel Aviv ist das unübersehbar. Wer schon einmal da war, weiß, dass Regenbogenfahnen an Fensterrahmen und Balkons weit verbreitet sind, Fächer, Fähnchen und andere Souveniers in Regenbogenfarben von Straßenhändlern feilgeboten werden und auch außerhalb der Szene-Bars Restaurants, Hotels und Cafés um queeres Publikum werben. Mit "Der letzte Schrei" hat der israelische Autor Yonatan Sagiv nun auch den passenden (Kriminal-)roman aus der queeren Szene Tel Avivs mit viel Lokalkolorit geschrieben. Doch auch hier gilt: Einerseits selbstbewusstes Schwul-lesbisches und sonstig queeres Leben, doch andererseits ist es nicht so einfach. Nicht nur wegen der Zersplitterung der Szene in immer mehr Communities, nicht wegen der wehselseitigen Vorurteile, etwa Lesben gegen Transen gegen Alpha-Schwule. Das Coming Out und die Akzeptanz der nächsten Angehörigen sind auch dort nicht selbstverständlich, wo es eine große Community gibt. Das Mobbing auf den Schulhöfen, den Sportplätzen oder in den Kasernen gegen die, die nicht der gängigen Norm entsprechen, existiert auch dort, wo Gesetze Toleranz versprechen. Und Vorurteile können tödlich sein. Oded Chafer, homosexueller Privatdetektiv, der stark mit seiner inneren Frau im Einklang ist und sich geradezu masochistisch in muskulöse Macho-Typen verliebt, die ihn dann wieder fallen lassen, kann ein Lied davon singen. Er mag in seiner schrill-effeminierten Art auffällig sein - doch eigentlich ist er verunsichert und verletzbar in seinem Wunsch, einmal nicht als der peinliche Sohn wahrgenommen zu werden, der als Kind beim Fußballspielen weinte und lieber mit der Schwester zum Tanzunterricht gegangen wäre, der bei Bar Mitzwahs schweigend übergangen wird, wenn Eltern mit den Erfolgen der eigenen Kinder angeben. Diese Verletzlichkeit, die sich erst nach und nach erschließt, gibt Oded Konturen weit über jegliche "Schwuchtel"-Klischees hinaus. Selbst Odeds Lebensstil ist mehr Schein als Sein: Die chice Wohnung im Bauhausviertel gehört nicht ihm, sondern einem guten Freund, der gerade geschäftliich in Singapur ist. Als Housesitter kann Oded seine deutlich weniger glamouröse Wohnung untervermieten und hoffen, dass der nächte Auftrag auch ihn einem guten Leben näherbringt. Denn für einen PR-Guru, der mit den Reichen, Mächtigen und Berühmten bestens vertraut ist, soll er herausfinden, was mit dem 15-jährigen Popsternchen los ist, das kurz vor dem großen Durchbruch steht, aber seit Wochen schwer depressiv ist und die vielversprechende Karriere riskiert. Oded hat also keine Zeit, sich um den Fall einer vermissten transsexuellen Sängerin zu kümmern, die nach einer Party bei dem PR-Guru nicht zu ihrer Freundin zurückgekehrt ist. Er hat auch wenig Lust, bloß um der regenbogenbunten Community willen Extra-Arbeit zu leisten und muss sich von seinem Kokurrenten um die Liebe des Polizeiinspektors Yaron Malka vorhalten lassen, er sei gendermäßig nicht auf dem Laufenden und zeige mangelnde Solidarität. Abgelenkt wird er aber auch einmal wieder durch seine Gefühle für den attraktiven Muskelprotz Stas, der Leibwächter wie auch recht Hand seines Auftraggebers ist. In "Der letzte Schrei" führt Sagiv seine Leser:innen durch Glanz und Elend von Tel Aviv, durch die Villen am Meer und die dunklen Ecken, in denen transsexuelle Prostituierte auf Freier warten, zeigt das Bild einer Multikulti-Gesellschaft, die keineswegs frei von Vorurteilen ist, ob nun gegen Araber, Einwanderer und Menschen jenseits des jeweiligen Mainstream handelt. Der sehr direkte Umgangston, der in Israel zum Alltag gehört und der Außenstehenden leicht aggressiv erscheint, wird ebenso gepflegt wie ein sehr bissiger jüdischer Humor ("In Auschwitz hätte ich keine Kartoffelschale mit ihm geteilt"), an den sich viele deutsche Leser wohl erst mal gewöhnen müssen. "Der letzte Schrei" hat ebenso schrille wie auch stille Momente, und zwischen den Obsessionen Odeds, wenn er einmal nur wieder an Männerkörper denken kann, ist es mitunter leicht zu übersehen, wie komplex und vielschichtig jenseits des Offensichtlichen dieses Buch ist. Mich hat es überzeugt, nicht nur weil es mir ein literarisches Wiedersehen mit Tel Aviv ermöglicht hat, nicht nur, weil Queerness hier keine Randerscheinung ist, sondern auch wegen der oft witzigen Dialoge und Odeds Lästereien.

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