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evaczyk

Posted on 25.4.2022

Der Berg kommt! "Der Berg ruft nicht, er kommt", hieß es mal in einem Bericht über die Auswirkungen des Klimawandels in den Alpen und anderen Gebirgsregionen. Welche Auswirkungen das für die Einwohner vor Ort hat, ist Thema in Petra Huckes Alpenroman "Vom Gehen und Bleiben", in dem nicht nur die Generation Greta eine Identifikationsfigur findet. Gerade mal 60 Einwohner hat das kleine Dorf Vischnanca in der rätoromanischen Schweiz, seit neuestem sind es vier mehr: Eine deutsche Familie aus Duisburg hat ein Haus im Dorf gemietet. Vor allem Familienvater Fabio, ein Ingenieur mit übermächtigem Vater, hofft auf einen Neuanfang: Alles kleiner als bisher, Homeoffice und Hausmann-Dasein, während endlich Ehefrau Katja als Managerin eines Öko-Hotels in einer nahen Stadt karrieremäßig durchstarten kann. Für Jasper, 17, und Jojo, 14, bedeutet es eine neue Sprache und Suche nach Freundschaften in einem Ort, wo sie so gut wie keine Gleichaltrigen haben. Der erste Wermutstropfen kommt unmittelbar nach dem Einzug: das Dach ist undicht. Doch es gibt nicht nur Baumängel. Die schücherne Jojo, die sich bei Fridays for Future engagiert, ist die erste der Familie, der die Risse an einigen Häusern auffallen. Der Felsbrocken, der bei einer Mofafahrt mit Jasper unmittelbar vor den beiden über die Fahrbahn rollte - kein Zufall? Leser erfahren zusammen mit den Neuankömmlingen, was die Einheimischen schon länger wissen, aber meist zu verdrängen suchten: Der Berg über dem Dorf droht abzurutschen, der gelegentliche Steinschlag ist nur eine Vorahnung dessen, was drohen kann, wenn die Stabilität ins Wanken gerät. Die Kantonverwaltung und Geologen haben schon seit längerem Evakuierungspläne vorbereitet für den Fall eines Felssturzes. Eine Drainage könnte helfen, den Untegrund zu stabilisieren. Doch das Dorf, so erfahren die Einwohner bei einer Dorfversammlung, muss so oder so aufgegeben werden. Für Fabio wäre es nur der Abschied von der Idylle, in die er sich verliebt hat, von dem Garten, den er angelegt hat. Von Haus aus wohlhabend, können seine Familie und er überall leben. Für die Bergbäuerin Ria sieht es ganz anders aus. Sie ist tief verwurzelt in dem Dorf, dass einer ihrer Vorfahren gegründet hat. Der Gedanke, woanders neu anzufangen, ist ihr ein Graus. Der Hof, der seit Generationen in der Familie ist, soll auch der Ort sein, an dem ihre kleine Tochter aufwachsen kann. Wie intakt ist die Dorfgemeinschaft wirklich? Bei der Debatte um eine Zukunft außerhalb von Vischnanca, um Entshädigungen und den Umgang mit Verlust sind die Meinungen gespalten. Risse gibt es nicht nur in den Gebäuden, sondern auch in der Dorfgesellschaft. Hierarchien, die lange übertüncht schienen, haben auch Einfluss auf die Überlegungen, ob man gehen oder bleiben soll. Dank Jojos Instagram-Aktivitäten wird das kleine Alpendorf über den Kanton hinaus in sozialen Medien bekannt. Doch plötzlich überstürzen sich die Ereignisse. Vieles, was als sicher und beständig galt, wird plötzlich auf die Probe gestellt - die Zukunft des Dorfes ebenso wie menschliche Beziehungen, Freundschaft und Liebe. Alles, was geschieht, scheint auf unsicherem Grund zu stehen. Diese Unwägbarkeiten schildert die Autorin aus dem Blick verschiedener Figuren des Romans, wobei Fabio, Jojo und Ria die mit dem stärksten Profil sind. Die Natur ist gleichermaßen Idylle wie Bedrohung, wobei mit den Gefahren durch den Berg auch die Konflikte in der Gesellschaft zunehmen und sich Abgründe auftun. Bei aller Dramatik ist "Vom Gehen und Bleiben" ruhig und mi eher leisen Tönen erzählt, wobei rätoromanische Worte für Lokalkolortit sorgen.

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