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bella5

Posted on 6.4.2022

Am 30. Oktober 1961 schließt die Bundesrepublik Deutschland das Anwerbeabkommen mit der Türkei ab. Die Vermittlung von türkischen Arbeitnehmern nach Deutschland wird gesetzlich geregelt & in die Wege geleitet. Dieses Anwerbeabkommen bildet den historischen Hintergrund von Fatma Aydemirs sozialkritischem Roman „Dschinns“. Worum geht’s? Erzählt wird aus dem Leben einer sechsköpfigen Migrantenfamilie. Nach 30 Jahren Plackerei hat sich der „Gastarbeiter“ Hüseyin Yilmaz endlich seinen Lebenstraum erfüllt. Ein Haus in der Heimat! Eine Wohnung in Istanbul, um genau zu sein. Er freut sich auf den Lebensabend am Bosporus, doch als er die Wohnung einrichten will, um sie stolz seinen Liebsten in Deutschland zu präsentieren, stirbt er an einem Herzinfarkt. Familiennachzug einmal anders, um es zynisch zu formulieren. Seine Frau Emine und seine vier Kinder müssen also in die „Heimat, fremde Heimat“ um die Beerdigung zu organisieren. Jedes Familienmitglied erzählt in „Dschinns“ seine Geschichte. Die Form spiegelt dabei den Inhalt wider. Aydemir arbeitet mit Rückblenden, um ihre Erzählung zu entfalten. Die vier Yilmaz-Kinder sind sehr unterschiedlich, sie haben verschiedene Probleme, aber alle sind sie geprägt von der Sprachlosigkeit innerhalb der Familie und dem (verinnerlichten) Anpassungsdruck von außen. Deutschland ist der Lebensmittelpunkt der Kinder und doch keine richtige Heimat. Die Wurzeln liegen in der Türkei, aber auch sie ist kein Refugium. Haben die Yilmaz-Kinder also zwei Heimatländer – oder kein einziges? Das Nesthäkchen Ümit hat mit der türkischen Sprache Schwierigkeiten und Identitätsprobleme (wenn man es denn als Problem definiert, was ihn beschäftigt). Sein Bruder Hakan ist auf den ersten Blick ein Klischeemacho und Nichtsnutz. Die Schwestern Peri und Sevda haben unterschiedliche Bildungsbiographien. Privilegien, die den Charakter formen. Als Hüseyin stirbt, erfahren die Kinder en passant etwas über ihre kurdischen Wurzeln, und die ängstliche Mutter Emine, die von vielen Menschen für einfältig gehalten wird, hat ihren deutschen Mitbürgern die Bilingualität voraus, obwohl sie kein Deutsch spricht. „Dschinns“ ist auch ein Spiel mit Klischees, aber vor allem ist er ein kraftvoller Familienroman und eine soziologische Analyse. Die Autorin versucht, alle derzeit gesellschaftlich relevanten Themen (Gender, Feminismus, Rassismus, Klassismus) in die Geschichte zu integrieren, daher wirkt die Handlung stellenweise etwas überladen (die Erzählung ist natürlich character – driven). Insgesamt ist „Dschinns“ aber ein absolut glaubwürdiger Roman, der tiefe Wahrheiten transportiert und teilweise traurig macht. Man muss kein türkisch-muslimisches „Gastarbeiter(enkel)kind“ sein, um die Geschichte zu verstehen. Menschen mit Migrationshintergrund werden beim Lesen vielleicht ein Déjà-vu haben, Menschen ohne Migrationshintergrund werden eventuell etwas Neues lernen. Eins ist sicher: „Dschinns“ regt zum Nachdenken an & geht unter die Haut.

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