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Buchdoktor

Posted on 3.3.2022

Der temperamentvolle Leon Ritter redet immer, wenn er nicht gerade isst. Ihn und seine Mutter Tiff/Tiffany lernen wir kennen, als Tiffs Konto überzogen ist und das letzte Geld gerade für eine Portion Pommes für Leon reicht. Auf Anregung eines mittelalten Nachbarn hat Tiff einen Job als Moderatorin von digitalen Inhalten angenommen, zunächst im Großraumbüro. Sie taggt Bilder und Clips, die User großer Internetplattformen hochgeladen haben. Für eine fixe Zahl von Tags innerhalb eines festen Zeitraums zahlt „EasyEye“ wenige Dollar. EasyEye bietet – angeblich – Videoüberwachung für Unternehmen durch Künstliche Intelligenz an. Eine KI muss für die Bilder trainiert werden, die sie erkennen soll. Theoretisch könnten Tiff, Stari und die anderen diese KI-Trainer sein, aber ebenso gut auch Versuchskaninchen für etwas, das sie sich bisher noch nicht ausmalen können. Die Aquise der Jobs findet im Konkurrenzkampf mit Kollegen statt; je mehr Tiff leistet, umso lukrativer sind die in ihrer Timeline aufploppenden Aufgaben. Das Arbeitsverhältnis ist natürlich ungesichert; allein die Interessen der Auftraggeber gelten als schützenswert. Das Risiko auf einen lächerlich bezahlten Auftrag hereinzufallen oder durch Gewaltdarstellungen getriggert zu werden, tragen die Moderatoren allein. Ein Schelm, wer zwischen Tiffs Tätigkeit und ihrer Angststörung einen Zusammenhang sehen würde … In einem Forum, in dem Tiff und Kollegen sich verbotenerweise austauschen, wird bereits gerätselt, was an Lagerhallen schützenswert ist, wenn auf den Bildern nie etwas zu sehen ist. Als Tiff auf einer Aufnahme einen vermutlich Obdachlosen und seinen Hund entdeckt, weckt sie das aus der Ödnis ihrer Tätigkeit. Der Mann liest seinem Hund aus einem Buch vor! Kurz darauf erscheint nur noch der Hund, offensichtlich auf der Suche nach seinem Menschen. Tiff und die Forenmitglieder würden am liebsten den Ort ermitteln und das Schicksal des Obdachlosen aufklären. Ein privates Interesse an ihren „Objekten“ verbieten Arbeitsvertrag und Verschwiegenheitserklärung bei EasyEye natürlich. … In einem zweiten Handlungsfaden treffen wir Stella, die auf die 60 zugeht und im Raum San Francisco in einer kirchlich finanzierten Suppenküche arbeitet. Stella hat ein bewegtes Leben hinter sich, mit munter zwischen eklig und illegal schillernden Gelegenheitsjobs. Welche Verbindung zwischen ihr und der Anfang Zwanzigjährigen Tiff bestehen könnte, darüber habe ich – wie im Krimi – lange gerätselt. Berit Glanz schildert in liebenswürdiger Weise den Alltag einer allein erziehenden, sehr jungen Mutter, die alles richtig machen möchte und zu Anfang der Handlung auf kein unterstützendes Netzwerk zählen kann. Beinahe körperlich ist zu spüren, wie ihr einerseits Anerkennung fehlt, aber auch eine vertraute Person, um gemeinsam die Ziele von EasyEye zu recherchieren – und welche Rolle sie selbst in deren „ganz großem Projekt“ spielen soll. Als Verdienst von „Automaton“ sehe ich die schonungslose Darstellung ungesicherter Arbeitsverhältnisse mit Arbeit auf Abruf rund um die Uhr. Natürlich habe ich mich auch gefragt, wann für Kinder wie Leon in Deutschland je Familien- und Bildungspolitik gemacht worden ist. Spannend, anrührend und inhaltlich zwischen Wolfgang Kaes Lemming-Projekt und Büchern von Karin Kalisa einzuordnen, in denen das Gute siegt.

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