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evaczyk

Posted on 29.1.2022

Fremdheit, Ankommen, Rückkehr Mit gerade mal 125 Seiten ist "Der Erinnerungsfälscher" von Abbas Khider ein schmaler Band, aber die Geschichte von Said Al-Wahid hat es in sich. Mitten im Alltag kommt die Nachricht des Bruders - die Mutter liegt im Sterben. Das würde vermutlich bei jedem eine ganze Achterbahn der Gefühle in Gang setzen, doch im Falle des Erzählers liegen die Dinge noch ein wenig komplizierter: Die Mutter ist in einem Krankenhaus in Bagdad, er selbst als mittlerweile deutscher Staatsangehöriger in Berlin. Dank einer Lesereise ist der Autor praktischerweise in der Nähe des Frankfurter Flughafens und seinen Pass hat er zum Glück immer dabei: Ein Überbleibsel der Zeit der Flucht und der langen Jahre als Asylbewerber, als er stets dokumentieren musste, wer er war und die Aufenthaltsgenehmigung ein zentrales Stück seiner Existenz war. Die Fremde, so heißt es in dem Buch, ist eine Fahrt auf einer verflixt langen Straße, die sich in Serpentinen schlängelt und ins Nichts führt. Während Said Reisepläne umschmeißt, einen Flug bucht und sich auf die Reise macht in das Land, das er vor 20 Jahren verlassen hat, blickt er zurück in die Vergangenheit seiner Familie, ihrer Tragödien, seiner Flucht und das lange Ankommen in Deutschland, das auch nach so langer Zeit immer wieder in Frage gestellt wird, wenn ein Polizist nach seinem Ausweis fragt, wenn ihn misstrauische Blicke streifen, wenn es wieder einmal einen islamistischen Anschlag gab. Wieviel Abbas Khider steckt in Said Al-Wahid? Die Beschreibung der Romanfigur ähnelt dem Bild des Autors auf dem Schutzumschlag des Buches, beide sind Schrifsteller, beide kommen aus dem Irak. Das Nervenflattern in Ausländerbehörden, die Auseinandersetzung mit einer Bürokratie, deren Sprache schon Muttersprachler vor Herausforderungen stellt, die Erfahrung von Fremdheit - das ist geradezu kollektives Gedeächtnis all derer, die entwurzelt wurden und in einem neuen Land einen Neuanfang machen müssen. Der Titel des Buchs bezieht sich auf eine Besonderheit Saids: Er leidet unter einer Erinnerungsstörung. An vieles aus seiner Vergangenheit, an alte Freunde oder Nachbarn kann er sich nur vage Erinnern. Wenn er autobiografisch angehauchte Texte schreibt, muss er die Lücken seiner Erinnerung mit seiner Vorstellungskraft füllen. Ist es ein neurologisches Problem oder ist die Last der Vergangenheit so groß, dass die Tilgung von Erinnerungen eine Art Selbstschutz ist? Saids Vater ist als Staatsfeind hingerichtet worden, der soziale Tod traf die ganze Familie. Die Schwester und ihre Familie kamen bei einer Bombenexplosion ums Leben. Die Zahl seiner Toten übertrifft die Zahl seiner Lebenden. Auf der Reise in den Irak erlebt Said die Unterschiede, die sein roter deutscher Reisepass macht, der ihm Türen öffnet, die ihm mit dem blauen Flüchtlingspass oder gar mit dem irakischen versperrt waren. Den Pass trägt er nicht nur immer und überall bei sich, er ließ ihn sogar vor den Bundestagswahlen erneuern, für alle Fälle: "Er hatte Angst, dass sein Pass nach den Wahlen nicht mehr verlängert werden könnte. Said wollte auf alles vorbereitet sein, mit einem Pass, der zehn Jahre lang gültig war." Das Buch zeigt auch die wachsende Kluft zwischen denen, die gegangen sind und jenen, die geblieben sind. Saids Bruder ist zwar jünger, doch er erlebt ihn gealtert. Das Leben im Irak, die Erfahrung des Bürgerkriegs, der amerikanischen Besatzung, der letzten Jahre des Regimes von Saddam Hussein haben Spuren hinterlassen. Trotz aller Unsicherheiten und Probleme ist es Said, der nach den Jahren der Flucht das bequemere Leben hat. Diese Rückkehr ist keine Heimkehr. Schnörkellos und eindringlich geht es in diesem Buch um die Erfahrung von Fremdheit, um das Ankommen im mehrfachen Sinn, um Wurzeln und Identität, um die Folgen von Gewalterfahrung und familiären Trauma, ganz ohne Betroffenheitslyrik und Sentimentalität.

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