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Buchdoktor

Posted on 4.1.2022

Schauplätze Jessie, die Icherzählerin, folgt im Alter von 6 Jahren mit ihrer Mutter, die sich damals Lorna del Rio nennt, von Santa Monica aus einer abenteuerlichen Odyssee, mit wechselnden Autos und wechselnden Namen, um ihre Spuren zu verwischen, die Küste von British Columbia entlang, mit einem Frachtschiff durch die Inside Passage (Gewässer Alaskas). Die Schiffspassage sollte nach Juneau führen; doch Lorna folgt lieber einem Trail, den sie auf einer handgzeichneten Kartenskizze hervorzaubert und der beide an den Kloo Lake nördlich des heutigen Alaska Highway (circa auf Höhe von Whitehorse) führen wird. Inhalt Als die 6jährige Jessie ihren Vater tot am Strand von Santa Monica sieht und ihre Mutter mit ihr zu einer abenteuerlichen Flucht aufbricht, ist sie in einem Alter, in dem Kinder noch „weder Herz noch Verstand haben“, wie ihre Nachbarin stets versichert hat. Jessie ist heute erwachsen und hat ein Studium absolviert, als sie an den Kloo Lake zurückkommt, an dem Lorna und sie damals aufgenommen wurden von der Gwich'in Kaska und von Herman, der als Kind von Weißen in ein Internat verschleppt worden war und seinen „christlichen“ Namen beibehielt. Jessie will sich vom Buschpiloten Bud zum Seeufer einfliegen lassen und der Blockhütte von damals, die so winzig war, dass Jessie in der unteren Schublade der Anrichte schlief. Hin und her gerissen, ob sie nicht besser unverrichteter Dinge wieder umkehrt, erzählt sie Bud ihre Geschichte. Bud ist Veteran des Zweiten Weltkriegs und hat auch sonst kein leichtes Schicksal zu tragen. Die Stimme der erwachsenen Jessie wechselt unvermittelt mit der kindlichen Jessie, mit Lorna, Bud, und auch Kaska und Herman kommen zu Wort. Die Übergänge zwischen den Erzählstimmen wirken abrupt. Nicht immer kann Jessie glaubwürdig ihr Erleben als 6-Jährige von der Sicht der reifen Erwachsenen trennen. Geprägt war die abenteuerliche Reise von der Dreistigkeit Lornas, die andere Menschen so vollendet ausnutzte, dass Jessie fürchtete, sie selbst könnte zurückgelassen werden, damit Lorna ohne sie schneller vorankommen würde. Für ein „Starlet aus Santa Monica“ schlägt Lorna oder Wie-auch-immer-sie-sich-gerade-nennt sich in der Wildnis der Yukon Territories erstaunlich tatkräftig durch. Andere Menschen lernen lebenslang, dort klarzukommen, wo Schneeschuhe und ein Pferd sinnvoller sein können als ein Pkw. In einer Region, wo Goldsucher, Fallensteller, Pelzhändler und Bordellwirtinnen aufeinandertreffen, wirkt Lorna jedoch nicht ungewöhnlich. Warum Lorna flieht und wie sie sich durchschlägt, sorgt für Spannung - und die Landschaftsbeschreibungen sind atmosphärisch einfach stark. Wenn z. B. die Totempfähle der Haida auf der Landseite der Passage aus dem Nebel auftauchen … Die zahlreichen Erzählstimmen und Buds Rolle als Therapeut und Hüter von Jessies Erinnerungen erfordern beim Lesen einige Geduld und Ausdauer. Bud sät für mein Empfinden Zweifel daran, ob er ein zuverlässiger Hüter der Geschichte sein oder sie so verändern wird, wie er sie sich - ichbezogen - als Touristenführer dieser Gegend vorstellt. Anne-Marie Garat vermittelt in der Begegnung von Mutter und Tochter mit Angehörigen der First Nation der Gwich'in den Charakter einer Landschaft, die eben nicht „der Nordwesten“ oder "Nordamerika" ist, wie der Rückentext des Romans angibt, sondern eine Grenzregion, in der Staaten, Nationen, deren Mythen und Sitten aufeinandertreffen. Lorna und Jessie überqueren die Staatsgrenze nach Kanada, die Grenze zwischen erschlossenen und unzugänglichen Gebieten, die Sprachgrenze zwischen den Gwich'in und den Tinglit weiter südlich und die Grenze zwischen Ureinwohnern, die bisher ihren Lebensraum geschützt haben und einem Staat, der sie systematisch um ihre Lebensgrundlage betrügt. Fazit Ein spannender, atmosphärischer Roman, der Einblick gibt in die Kultur einer der zahlreichen First Nations auf dem Boden Kanadas und Alaskas. Den Klappentext finde ich allerdings zu unpräzise, um die Zielgruppe des Buches anzusprechen. Mir wäre der Roman beinahe entgangen, weil "Starlet, Santa Monica und Hollywood" nicht zu meinem Beuteschema gehören. Eine Kartenskizze auf dem hinteren Deckel oder "Kanada, Juneau, First Nations" als Schlagworte würden dem Buch eher gerecht. Lesern von Nature Writing und Plots in entlegenen Gegenden empfehle ich „Der große Nordwesten“ gern.

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