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wandanoir

Posted on 22.9.2021

Eine Farce. Oder Opera buffa. Um diesen Roman in angemessener Weise zu besprechen, muss man das Pferd von hinten aufzäumen: Im Nachwort stößt Veronesi denjenigen Leser, der es nicht sowie so längst geahnt hat, (endlich) mit der Nase drauf, was er in seinem mit dem Premio Strega 2020 ausgezeichneten Roman „Der Kolibri“ gemacht hat beziehungsweise, was er aus seinem Roman gemacht hat: nämlich eine komische Oper, opera buffa. Wie hat Veronesi das gemacht? Der Autor bringt in seinem Roman, nur vordergründig eine Art Familiensaga, die in unmotivierter, sprich unnötig sprunghafter, um nicht zu sagen in wirrer Chronologie präsentiert wird, eine Vielzahl an von ihm goutierter Songs, Zitate und Textpassagen anderer Autoren unter, womit er ihnen Referenz erweist, denn sie sind heute weitgehend unbekannt. „Der Kolibri“ ist also eine Hommage an Autoren, die Veronesis Meinung nach, nicht in der völligen Bedeutungslosigkeit oder im Meer des Vergessens versinken sollten. Das darunter bekannteste Roman-Motiv ist der Song „Gloomy Sunday“ von Reszö Seress (Musik) und László Jávor (Text). Ohne Zweifel ist Sandro Veronesi ein überaus belesener und gebildeter Autor und ich würde seinen Roman mehr würdigen, wenn er nicht mit einem Nachwort, sondern mit Fußnoten gearbeitet hätte. Vielleicht. Die Story, als Familiensaga verkleidet, ist durchgeknallt. Unglaubhaft. Eine Farce eben. Opera Buffa. Dazu passen die zahlreichen Einfälle des Autors, zum Beispiel das Märchen mit dem Faden im Rücken. Einen Mangel an Originalität kann man dem Autor nicht vorwerfen. Vieles andere. Wahrlich. Aber das nicht. Obwohl auch die Fadengeschichte geklaut ist, eine Coverversion sagt der Autor von manchen Einfällen, die er übernommen und umgestaltet verwendet hat. Der Held, Marco Carrera, von vornherein als Opfer aufgestellt, ist der große Dulder des Romans. Der Protagonist wickelt nicht nur ohne Hilfe seines einzigen Bruders, den komplizierten Nachlass seiner Eltern ab, er betreut diese auch im langwierigen Sterbeprozeß. Schon vorher war er der Fels in der Brandung im hauseigenen Familientrauma, dem Suizid seiner Schwester Irene. Das sind nicht die einzigen Aufgaben Carreras. Er kümmert sich rührend um seine verhaltensgestörte Tochter und zieht schließlich auch seine Enkelin auf, die ihm sozusagen als „der neue Mensch“ in die Arme gelegt wird. Die Erklärungen des Romans für Marco Carreras Dulderdasein, sind, milde gesagt, spinös. Marcos Leben besteht aus eine Reihe von Schicksalsschlägen, nostalgischen Anwandlungen, seltsamen Freunden und Leidenschaften, spinnerten Ausführungen über das Sehen und Gesehen werden, etc. etc. Aber seis drum. Halten wir uns damit nicht auf. Innerhalb der überkonstruierten Handlung, Veronesi muss schon einige Volten schlagen, damit sich ein einigermaßen brauchbarer Text ergibt , erlaubt sich der Autor heftige Hiebe gegen die zeitgeistige Mode, sich bei jedem Mückenschiss des Lebens auf die Psychiatercouch zu legen und gipfelt schließlich, - für mich der unrühmliche Höhepunkt eines unrühmlichen Romans, in einer wilden Wutrede über den „neuen Menschen“, sprich über den unoriginellen Influencer unserer Zeiten, der nur imitiert, aber nichts Eigenes besitzt, der durch Blendung und Verführung reich wird und sogar den Tod noch als Schauspiel für seine Zwecke inszeniert, also tatsächlich in Szene setzt und womöglich noch vermarktet. Die Kritik am „neuen Menschen“ hätte den Roman herausgerissen aus seiner Künstlichkeit oder sie wenigstens gerechtfertigt, doch liegt sie so verklausuliert oder auch verklebt im ganzen Rest des Romans, dass der unbedarfte Leser es schwer hat, sie als das Wesentliche zu erkennen, mit anderen Worten: sie kommt zu spät. Sprachlich ist der Roman sperrig. Was nicht dazu beiträgt, dass er bei mir Punkte sammeln könnte. Fazit: „Der Kolibri“ ist ein Kunstroman, der an Künstlichkeit kaum zu überbieten ist. Ein Roman, der eine Farce auf den Familienroman darstellt und natürlich deshalb genial sein könnte, es aber nicht ist. Überkonstruiert, langweilig, borniert? Diese Wertung liegt im Auge des Betrachters. Mein Roman ist das nicht. Die Idee der Verkleidung (als Familienroman) ist aber sicherlich drei Sterne wert und ich kann, obwohl ich selber den Roman nicht mag, trotzdem nachvollziehen, warum die italienische Jury nicht den Roman an sich, dessen Lektüre wahrlich kein Lesevergnügen bereitet, sondern die Idee dahinter auszeichnete. Kategorie: Belletristik Verlag: Paul Zsolnay, 2021 Preisträger des Premio Strega, 2020

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