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gwyn

Posted on 6.7.2021

«Eines der Gegenmittel scheint zu sein, manchmal (nicht oft!) ‹ich› zu sagen. Das tut man eigentlich nicht in der Wissenschaft, weil man doch objektiv sein will und nicht subjektiv. Das aber ist oft eine Täuschung. Am stärksten ist der subjektive Faktor in der Auswahl der Bücher, die besprochen werden. ... Es bleibt jedenfalls zuzugeben, dass es bei der Auswahl der Bücher ein subjektives Element gibt. In mancher Hinsicht ist Lesen wie ein Kenner ein Spiegel meiner Bibliothek. Manchmal sage ich auch, wie ich zu einem Buch kam. Ich rede nur über Bücher, die ich auch besitze. Aber ich habe auch versucht, mir irgendwann und irgendwie alles anzuschaffen, was mir wichtig schien oder in meiner Ausbildungs-, Lehr- und Lebenszeit als wichtig galt.» Kann man sich über ein Sachbuch über Literatur aufregen? Ja, zumindest ich. Prof. Hermann Kurzke ist Literaturwissenschaftler an der Universität Mainz und er lehrt «Neue deutsche Literatur». Er sagt, er hat sich selbst Bücher angeschafft, die ihm wichtig schienen – und über 70 Werke dessen, was der Herr Professor für erwähnenswerte Literatur erachtet, stellt er vor, ein Spiegel seiner eigenen Bibliothek. Doch wer hätte gedacht, dass kaum eine Schriftstellerin hier zu finden ist! Mittendrin Margaret Mitchel, «... im Vordergrund geht es in ‹Gone with the wind› um die bewegenden Liebesgeschichten ...». Klar, Frau schreibt Liebesgeschichten. So ziemlich auf der letzten Seite wird noch eine weitere nachgeschoben: Christa Wolf, deren Werk mit dem von Joseph Goebbels gleichgestellt wird. Frauen werden ansonsten in diesem Buch als Ehefrauen oder Geliebte erwähnt, oder es sind Romanfiguren. Dass die Literaturwissenschaft in Deutschland das gleiche Problem wie die katholische Kirche hat, ist lange bekannt: patriarchalisch durchsetzt, erzkonservativ und von vorvorgestern. Aber dass es so schlimm ist, hätte ich nicht gedacht. Misogyn - ein, anderes Wort fällt mir nicht dazu ein! Micky Maus und Donald Duck werden erwähnt – gut, es sind ja Männer. «... ‹Michael› von Joseph Goebbels? Ich behaupte nicht, dass dieses Buch, das ich zufällig in einem Antiquariat aufstöberte, klassisch (im Sinne von erstrangig, vorbildlich) sei, aber ich fand, es sei interessant, einen Blick darauf zu werfen, was ein führender Nationalsozialist, der über- dies studierter Literaturwissenschaftler war, zur Unterhaltungsliteratur beigetragen hat.» Der gute Herr Goebbels, immerhin promovierter Germanist, schafft es, gleich mehrfach im Buch erwähnt zu werden. Sogar ein Roman von ihm wird besprochen, mit der erhellenden Erkenntnis, der engste Vertraute Adolf Hitlers, Gauleiter und Reichspropagandaleiter mochte keine Juden und keine Kommunisten – ein Bildungsroman, der zeigt, wie Goebbels Nationalsozialist wurde. Wer hätte das gedacht? Und warum ist es erwähnenswert, dass man dieses Buch so ganz zufällig in einem Antiquariat aufgestöbert hat? Das klingt wie ein Pennäler, der ganz zufällig «Feuchtgebiete» liest und sich vorm Pfarrer erklären muss. Ganz am Ende wird Christa Wolf erwähnt, als zweite Schriftstellerin in diesem Buch. Und schon wieder ist Joseph G. dabei als Vergleich: «Wie ‹Michael› von Joseph Goebbels die Erziehung zum Nationalisten zum Thema hat.» Es gibt eine Menge Bildungsromane, aber dieser Michel scheint beim Autoren großen Eindruck hinterlassen zu haben. Ebenso zieht er «Winnetou» von Karl May als Bildungsroman heran. Lesen und lesen ist ein Unterschied. Wie liest man Literatur, um sich mit ihr auseinanderzusetzen? Genau das erklärt Hermann Kurzke in diesem Sachbuch. Über 70 Werke benennt er beispielhaft, wobei er sich größtenteils zwischen dem vierzehnten bis neunzehnten Jahrhundert bewegt. Wenn wir diese Auswahl hinterfragen, überlegen, warum der Autor Frauen und die moderne Literatur ausschließt, müssen wir davon ausgehen, dass er diese Schriftsteller und Schriftstellerinnen als für nicht beachtenswert hält. Betrachten wir das mal gesellschaftspolitisch: Mit dem zwanzigten Jahrhundert haben die Frauen begonnen, sich zu emanzipieren, Widerstand dagegen zu formieren, gesetzlos zu sein, gesellschaftlich nicht wahrgenommen zu werden, und von Männern abhängig zu sein. Ab der Mitte des zwanzigten Jahrhunderts haben sich die Kolonialstaaten erhoben, sich von ihren herrschenden Kolonialherren getrennt; die nichtweiße Bevölkerung erhob sich, pochte auf ihre Rechte und auf Gleichberechtigung. Aber selbst wenn man das mal herausnimmt, warum werden Frauen aus der vergangenen Literatur nicht erwähnt, um einige zu nennen, wie Annette von Droste-Hülshoff, Lady Caroline Lamb, Nora Ephron, Edith Wharton, Mary Shelly, Jane Austen, Madeleine de Scuddéry, Madame de la Fayette, Charlotte Brontë, Virginia Woolf, Anna Seghers? Wahrscheinlich entsprechen sie nicht dem Spiegel der Bibliothek des Professors. Und wenn wir sehen, dass von über 70 vorgestellten Schriftstellern nur genau sechs Werke nach 1945 (Frisch, Handke, Steinbeck, Grass, Wolf, Glukhovsky) übrigbleiben, lässt dies sehr auf die innere Einstellung zur Literatur des Autor schließen. Franzosen scheinen Hermann Kurzke auch nicht erwähnenswert, kein Wort über Zola, Sarte, Camus, Balzac, Proust oder Jean Paul. «Wie ich auf ‹Metro 2033› verfallen bin? Ich wollte etwas Aktuelles, wirklich Gelesenes und fragte meinen Sohn Philipp (*1981), was er gerade lese, bevorzugt aus dem Bereich Utopien und Dystopien.» Ein Professor für «Neue deutsche Literatur» kennt sich mit der modernen Literatur nicht aus, muss erst den Sohn fragen, was gerade in Deutschland gelesen wird – insbesondere, weil er ja auch etwas über den Bereich Utopien und Dystopien schreiben möchte. Ich habe mich an dieser Stelle über die Ehrlichkeit königlich amüsiert. Nun zum Inhalt – und warum ich dieses alles vorweg geschrieben habe: Hermann Kurzke erklärt, wie man sich einem Buch nähert. Es beginnt mit der Textlage, was haben wir hier vor uns? Wann und wo ist der Text entstanden und «auch über den Autor sollte man hier schon das Nötigste sagen». Im nächsten Schritt sollte man die historisch-biografischen Umstände um den Text analysieren. Weiter geht es mit der Textsorte und dann zur Form: «Wenn mir ein Karl-Marx-Porträt zu eigen ist, macht es einen Unterschied, ob das Bild im Wohnzimmer über dem Sofa oder im Abtritt über dem Klosett hängt. Der Inhalt (Marx) ist gleich geblieben, aber die Form der Aufhängung ist jeweils anders. Sie entscheidet über die Interpretation.» Die humorige Art des Autors als Beispiel dafür, wie der Lesende Textform und Inhalt in Beziehung setzt. Wo der Marx in seinem Haus hängt, mögen wir ahnen. Kurzke beginnt mit einer ausführlichen Analyse des Textes «Gebet des Zoroaster» von Heinrich Kleist – und Kleist wird uns auch weiterhin ellenlang in diversen Kapiteln begleiten. Im zweiten Kapitel «Von Minnesang bis Partyklang» geht es um die Analyse von Lyrik, knappe 100 Seiten. Es folgt «Stiltrennung und der Tod als Demokrat - Dramen von Shakespeare bis Handke»; im Kapitel wird das Drama erklärt, der Fünfakter, Beispiele der Interpretation zu einigen Werken gegeben. Im Kapitel «Erzählkunst» kommen wir zum Roman. Wie und was wird erzählt? Ein paar Gattungen werden aufgezählt. Neben Ort und Zeit spielt die Erzählfunktion eine Rolle, die sich aus der Erzählhaltung und der Erzählsituation zusammensetzt. Es folgen wieder Beispiele an vorgestellten Romanen. Das alles ist gut und verständlich erklärt. Das Wie gefällt mir persönlich ganz und gar nicht. Vor hundert Jahren hätte dieses Sachbuch funktioniert. Bereits vor 50 Jahren hätte es mich genauso wie heute verärgert. Wir leben im 21. Jahrhundert und die Auswahl der Bücher, die vorgestellt werden, ist ziemlich antiquiert. Natürlich sollten Klassiker dabei sein, aber moderne Literatur hat ebenfalls ziemlich gute Werke zu bieten, an denen man das Lesen von Literatur erklären könnte. Interessanterweise funktioniert genau das im Ausland sehr gut, Sachbücher zur Literatur, in denen sich eine moderne Gesellschaft wiederfinden kann. Dass der Autor die Schriftstellerinnen fast gänzlich außer Acht lässt und dann verächtlich unter der Rubrik Schmozette eine aus dem Hut zaubert, die zweite mit Goebbels auf eine Stufe stellt, muss man als misogyn bezeichnen. Dieses Sachbuch richtet sich insofern an ein kleines Fachpublikum, an ein verstaubtes patriarchalisches aus dem vorletzten Jahrhundert.

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