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wandanoir

Posted on 2.7.2021

Europa. Das Klima. Annalena. Dass dem Buch von Annalena Baerbock das Parteiprogramm zugrunde liegt, das verhehlt sie nicht, sie verweist sogar im Nachwort ausdrücklich darauf hin. Deshalb spricht sie im vorliegenden Text viele Themen an, jedoch ohne allzusehr in die Tiefe zu gehen. Sie sagt, was anliegt, welche Problemstellungen sie umtreiben und was sie sich vorstellt oder anstrebt. Meistens benutzt sie für die Um- und Beschreibungen ihrer politischen Ziele die üblichen Politikerphrasen, denen man zwar nicht nachsagen kann, dass sie gar nichts aussagen, aber sie sind intellektuelle Blumigkeiten, die man aufdröseln muss; geschrieben sind sie schnell, weil man als Politiker in der phrasenlastigen Ausdrucksweise zuhause ist. Gelesen sind sie auch schnell, das Verständnis bleibt allerdings oft auf der Strecke und man fragt sich, was heißt das denn nun im Einzelnen? Und dann kommt man drauf, dass die politische Phrasologie eine starke Vereinfachung oder reine Verschleierungstaktik ist. Da ist zum Beispiel von „Verantwortung“ die Rede. Wenn ich aus gewissen Mündern die Worte „Verantwortung oder Reform“ höre, stellen sich mir die Haare auf. Denn auf ganz einfach übersetzt, bedeuten sie lediglich, Geld in die Hand nehmen und du bist es, der bezahlt. Ich hätte mir VOR ALLEM und ALS ERSTES von „Jetzt“ eine phrasenlosere Sprache gewünscht, die mehr auf Erklärungen und Vereinfachungen setzt statt auf Begrifflichkeiten. Nun denn. Es gibt auch schöne Sätze, die mich für Annalena und ihre Anliegen einnehmen: „Was mich umtreibt, ist, das Denken aufzubrechen, das in Menschlichkeit politische Schwäche sieht“. „Meine Vision ist nichts Geringeres als eine atomwaffenfreie Welt“. Ob man dies durch multilaterale Vereinbarungen erreicht … man sieht ja, wie leicht Verträge gebrochen werden. Folgenlos. Annalena Baerbock möchte ein starkes Europa. Vernetzung. Multilaterale Gespräche. Stärkung des Öffentlichen Nahverkehrs. Flächendeckend. Zusammenarbeit mit der Wirtschaft in Beziehung auf umweltfreundliche Mobilität. Unabhängigkeit von USA und China und vom Dollar. Ein selbstbewusstes Europa. Energiepatenschaften. (Vollkommene) Digitalisierung von Schulen und Institutionen. Und vieles mehr, den goldenen Plan verwirklichen oder neu auflegen zum Beispiel. Was das ist? Das wissen Sie nicht? Die gezielte Föderung des Breiten- und des Profisports. Was die Autorin nicht sagt, ist, wie dies alles zu bewerkstelligen wäre. Dafür habe ich Verständnis. Dafür wäre der Text auch viel zu kurz. Da und dort gibt es zarte Andeutungen. Kann eine davon die Vermögenssteuer sein? Der Kommentar zu Buch und Politik: 1. Was ich wissen will, erfahre ich durch das Buch. Nämlich, ob Annalena B. noch etwas anderes im Blick hat als Klima, Klima, Klima. Ob sie einen Blick für die komplexen Zusammenhänge hat. Ob sie inzwischen kompromissfähig ist. Ja, ist sie. Ja, hat sie. 2. Der Plagiatsvorwurf: Angesichts der sich nahenden Bundestagswahlen wollte man dieses Buch sicher schnell auf den Markt bringen. Es ist die Frage, ob es klug gewesen ist, eins „auf die Schnelle“ zu fabrizieren oder ob man sich nicht mehr Zeit hätte lassen sollen und mehr Sorgfalt hätte aufwenden müssen. Viele Formulierungen sind Politphrasen. Die klingen alle ähnlich, sind verschwurbelt und sind für den einfachen Bürger mehr oder weniger sinnfrei. Man darf sie verwenden, klar, sollte sie jedoch kenntlich machen. Ich finde aber, sie fallen nicht ins Gewicht. Es ist das Politikschwurbel itself, was ich ankreide. 3. Der ÖTNV: Sollte nicht nur flächendeckend sein, sondern sogar kostenfrei. Finde ich. Nur dann hätte es Zweck und Auswirkung. Davon finde ich leider gar nichts im Programm. Der ÖTNV ist horrend teuer! Die paar günstigen Abos, die die Grünen vielleicht, vielleicht aber auch nicht, vorsähen, helfen kaum. Ein Tropfen auf den heißen Stein. 4. Die (künftige) Wasserstofftechnologie: Ist sicher nicht die Lösung für alles. Und Wasserstoff ist auch nicht per se grün, sondern einfach nur Wasserstoff. Und unbegrenzt gibt es ihn auch nicht. Nichts gibt es unbegrenzt. Nicht einmal Luft. Von Luftverschmutzung ist nur indirekt die Rede. Lärm- und Lichtverschmutzung kommt überhaupt nicht vor. (Nun gut, eins nach dem anderen). 5. Die Digitalisierung von Instutitonen vorantreiben: Wenn das Ganze auch sicher sein soll, ist der Geringverdiener von der Anteilhabe quasi (an und von allem) ausgeschlossen: nicht jeder kann sich ständig das neue Smartphone mit der neuesten Sicherheitstechnik kaufen. Hier würde ich mal ganz langsam machen. 6. Die Migrationspolitik: Soll menschlich sein. Wir sind uns einig. Aber wenn man die Lager, in denen unmenschliche Bedingungen herrschen, auflöst, die Menschen alle nach Deutschland brächte und hier leben ließe, - das kann man EINMAL machen – dann wären diese Lager in einem Jahr wieder zum Überlaufen voll. Nein, man muss das Übel an der Wurzel anpacken und durch außenpolitische Maßnahmen … ok, das weiß Annalena B. besser als ich. Aber, wie soll das gehen? „Wir wissen es nicht“. (Zitat von Julian Barnes aus „Der Mann mit dem roten Rock“; sehr lesenwert). 7. Gendern im Buch: unlogisch und schrecklich: Bei der Genderdebatte und ihrer Bewertung liegen wir vermutlich weit auseinander, Annlena B. und ich: - Der Genderwahnsinn macht leider „Jetzt, wie wir unser Land erneuern“ neben den verwendeten schwer eingängigen und zum Teil sachverhaltsverschleiernden Politikphrasen noch einmal schwerer lesbar und das hat mit Gewöhnung/ungewohnt nichts zu tun: Argumente: • die kasusangepassten Substantivendungen des Deutschen bleiben beim Gendern auf der Strecke. (Was ist ein kasusangepasstes Substantiv? Den grammatischen vier Fällen, Akkusativ, Genitiv, Dativ und Nominativ sind die Substantivendungen im Deutschen anzupassen. Dem wird man beim Gendern nicht gerecht). • für Ausländer dürfte unsere Sprache noch schwerer „richtig“ zu lernen sein. Dabei will man doch so ausländerfreundlich sein. Und selbst in diesem Buch ist es unmöglich gewesen, das Gendern ausnahmslos und stringent und logisch durchzuziehen. Gingen den Druckern etwa die Sternchen aus? Vor lauter Sternchen sähe man nämlich kaum mehr Text, wenn man gnadenlos alles begendern würde, was zu begendern wäre. Das Gegendere lenkt von den Inhalten ab. Das Gendern ist nicht ästhetisch. Last but not least: durch das Gendern macht man Frauen in der Sprache nicht etwa sichtbar, sondern komplett lächerlich. FAZIT: Das Gendern nehme ich schwer übel. Das Phrasenhafte macht es nicht leicht zum Kern der Grünenpolitik durchzudringen. Wo Annalena B. persönlich wird, ist sie authentisch. Doch bei der Grünenpolitik gehe ich trotz macher Bedenken insofern mit, als dass wir einmal einen anderen, neuen Weg einschlagen müssen. Es gibt keine Garantie dafür, dass es klappt. Dass alles besser wird. Aber eine tiefgreifende Veränderung ist alternativlos. Da bin ich ganz bei Annalena B. Und vergebe deshalb (bisschen Wahlhilfe darf) vier Sterne, obwohl ... die Machart nur drei verdient. Verlag: Ullstein, 2021 Kategorie: Sachbuch. Politik.

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