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wandanoir

Posted on 16.5.2021

Auf gar keinen Fall ein Sachbuch. Die Götter müssen verrückt sein, es als Sachbuch zu nominieren. Die Autorin hat eine interessante Vita. Sie kommt, gerade dem Babyalter entwachsen, also mit einem Jahr, zusammen mit ihren Eltern aus dem Iran in die Bundesrepublik. Ihre Eltern arbeiteten für die iranische Regierung, mit anderen Worten für Shah Mohammad Reza Pahlavi und waren nach dem Umsturz extrem gefährdet, so dass sie aus ihrer Heimat flüchteten und wohl in Deutschland Asyl beantragten. Asal Dardan wächst in Deutschland auf, macht Abi und wird eingebürgert. Recht spät. Warum so spät, wird nicht ganz klar. Nach Jahren in u.a. Berlin wandert sie mit ihrem Lebensgefährten nach Schweden aus, dann wieder zurück. Der Kommentar: Immer wenn die Autorin von ihrer Vita spricht, werden sie und ihre Erzählweise ganz lebendig und warm. Ich mag ihren Stil. Ich mag die Reflexionen, die sie über ihr Leben anstellt und über die Erfahrungen, die sie in diversen Städten und Ländern macht. Man mag sie um ihre Sprachfähigkeiten beneiden und um ihren erweiterten Blickwinkel. Die Erfahrungen rassistisch begründeter Diskriminierung machen sie jedoch auch ungerecht und einseitig und manchmal unfreiwillig komisch, so, wenn sie es rassistisch findet, dass Jesus ein aramäischer Jude ist und kein Wasauchimmer. Jedenfalls weiß. Mit dieser Klage muss sie zu Gott gehen. Kein Mensch kann was dafür. Wenn in Berlin-Wannsee ein Kellner darauf besteht mit ihr englisch zu sprechen, obwohl sie ihm in astreinem Deutsch ihre Wünsche mitteilt und der Kellner gleichzeitig mit ihrem Partner deutsch spricht, der aber Schwede ist und kein Wort Deutsch versteht, dann ist das eher komisch als dramatisch. Veränderungen brauchen eben ihre Zeit bis sie in den Köpfen ankommen. Und wenn sie Deutschland ein Land nennt, das immer noch radikal ist, dann möchte ich wissen, was „immer noch“ bedeutet. War es immer radikal? War Deutschland nicht in erster Linie einmal ein preußischer Obrigkeitsstaat? Und ist es nicht ein Land, das mit Blut dafür bezahlte, eine Demokratie zu werden? Und darf es nicht darauf stolz sein? Im arabischsprachigen Raum gibt es relativ wenige Demokratien. Wenn die Autorin also Deutschland radikal nennt, dann ist das per se wissenschaftlich unzulässig, wenn sie es nicht in einen größeren Zusammenhang stellt. Ja, Deutschland hat rassistische und radikale Tendenzen, die man keineswegs gut finden darf, aber, zumal in einem Sachbuch, muss differenziert werden. Im Vergleich zu welchen Ländern und in welchem Maßstab? Inwieweit kann man ein Land mit seinen Einwohnern gleichsetzen, wo muss man unterscheiden? Ich weiß nicht, wie man auf die Idee kommen kann, „Betrachtungen einer Barbarin“ als Sachbuch zu klassifizieren. Das ist es nicht. Dafür ist es viel zu subjektiv. Es handelt von vielen Dingen, vom Hadern mit der wissenschaftlichen Landschaft, die es der Autorin als Mutter von zwei Kindern mit schwierigen Schwangerschaften quasi unmöglich machten, einen wertigen Abschluss zu bekommen. Es handelt von den Bildern Spitzwegs, die ihr in ihrer Jugend eine Art Heimat waren, es handelt von den Frauen, die hinter den Straßennamen der sogenannten Grünen Stadt in Berlin stehen, oft Widerstandskämpferinnen, es handelt vom Auslandspraktikum in New York, von Weihnachten und dem iranischen Neujahrsfest. Es handelt von Verwandten in Schweden. Und es handelt von persönlichen Diskriminierungserfahrungen, die die Autorin einfach hochrechnet. „Dieses Land neigt noch immer zu extremer Politik“. Wenn sie sich einer „Verklärung eines abendländischen Kulturraumes und seiner Leitkultur“ widersetzt, ist das ihr gutes Recht. Wenn sie sich auf die mörderische Geschichte dieses Kulturraumes beruft, dann hat sie ebenfalls Recht, jedoch nicht, wenn sie ihre Aussagen nicht in einen allgemeineren Kontext setzt. Deutschland tut sich nicht besonders hervor. Hat doch jede alte Kultur, und vielleicht haben noch mehr junge Kulturen, eine mörderische Geschichte; die USA hat ihre indigene Bevölkerung ausgelöscht, die Türkei bekennt sich heute noch nicht zum Genozid an den Armeniern, die ganze Welt wurde schuldig an den Juden seit Jahrhunderten. Deutschland besonders, das ist wahr. Die arabischen Kulturen zeichnen sich auch nicht gerade durch das Hochhalten der Menschenrechte aus, China, Afrika, ich weiß nicht wohin schauen, die Menschheitsgeschichte ist eine Geschichte von Blut und Tränen. Woher kommt das Bashing genau gegen die Länder/Staaten, die Flüchtlinge und Migranten mit mehr oder weniger offenen Armen aufgenommen haben und aufnehmen, während man kein kritisches Wort über die Herkunftsländer vernimmt, die doch ursächlich sind für all das Elend? Europa bringt die Menschen auf dem Mittelmeer nicht um, sondern die Länder sind verantwortlich, aus denen sie fliehen müssen. Wenn die Autorin empört fragt, ob nicht ein äthiopisches (Platzhalter) Baby genau so viel Recht auf Leben hätte wie ein deutsches, ist das polemisch und sie verwechselt Ursache und Wirkung. Denn sonst müsste man sofort in den Jemen stürzen und dort alle Babies retten. (Ein Jammer, dass das nicht möglich ist). Asal Dardan schreibt weiter: „Sobald man über Diskriminierung spricht, zieht sie weitere nach sich. Man wird zur undankbaren Fremden.“ Mit so einer Aussage verbittet man sich von vornherein eine kritische Auseinandersetzung dessen, was man schreibt und fordert einen Freifahrschein. Denn ja, das ist so, wenn man undifferenziert ist. Das ist so, wenn man kein Wort des Lobs und des Dankes für die aufnehmenden Länder findet und wenn man keine Kritik am Herkunftsland zulässt. (Das ist ja ganz was anderes). Einen Freifahrschein kann man nicht bekommen, wenn man beschuldigt. In einem hat die Autorin natürlich recht, Deutschland stünde Demut besser zu und an als sich zu recken und auf den Putz zu hauen. Andererseits hat die Bundesrepublik Deutschland und haben seine Bürger, einen blutigen Preis für seine demokratischen Errungenschaften bezahlt. Errungenschaften, von deren Vorhandensein nicht nur seine eigenen Bürger, sondern auch die ankommenden Fremden profitieren. Und dann? In jedem Land dauert es eine bis zwei Generationen bis die Fremden keine Fremde mehr sind. Und manchmal länger. Das ist sicherlich schmerzhaft, liegt aber in der menschlichen Natur. Das weiß, wer auf dem Land zuzieht. Wie heißt es so schön, man ist „reingeschmeckt“. Noch einmal zum Ausgangspunkt, der Bemerkung der Autorin, die BRD sei ein Land mit Neigung zu radikaler Politik: zum Nullpreis war Demokratie noch nie zu bekommen. Damit die Bundesrepublik Deutschland demokratisch bleibt und keine Seite die andere mit Sprechverboten belegt, sollten wir alle miteinander demütig(er) sein und differenzieren. Vom Auseinanderdividieren im Sinne von „wir“ und „ihr“ sollten wir schleunigst abrücken. Fazit: „Betrachtungen einer Barbarin“ ist kein Sachbuch. Es ist ein Erfahrungsbericht einer Kulturwissenschaftlerin. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Charmant geschrieben, der aggressive Ton, den ich bei anderen, ähnlich gelagerten Romanen lese, ist erfreulicherweise gedämpft. Die Klage versteht man. Rundumschläge helfen niemandem. Erstaunlicherweise nominiert für den Deutschen Sachbuchpreis 2021 Kategorie: Belletristik Verlag: Hoffman und Campe, 2021

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