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Buchdoktor

Posted on 25.3.2021

In der Mythologie des Pazifischen Nordwesten Kanadas wird der Rabe als Schöpfer der Welt verehrt oder als mächtige Figur, die Licht ins Dunkel gebracht hat. In Iain Lawrence’s Abenteuerroman muss der Rabe sogar so mächtig sein, dass die Natur ihm zu Ehren einen gewaltigen Felsen in Rabenkopfform entstehen ließ. Der 12-jährige Christopher ist eingeladen worden, mit seinem Onkel Jack 4 Wochen lang dessen Segelboot von Anchorage in Alaska zurück nach Vancouver zu segeln. Für Christopher wäre der Törn eine Gelegenheit, nach dem Tod seines Vaters mit Jack ein Gespräch unter Männern zu führen. Er verachtet jedoch auch nicht die Chance, dafür 4 Wochen vom Schulunterricht befreit zu werden. Nicht glücklich über das Angebot ist allein Christophers Mutter; denn Jack, der legendäre Kämpfer gegen Waldbrände, kann zu ihrem Kummer ohne Gefahr nicht leben. Zu Christophers Verblüffung wird Jack und ihn der 3 Jahre ältere Frank begleiten, der den Jüngeren vom ersten Tag herablassend behandelt. Auf dieser Welt kann es nichts geben, von dem Christopher wissen könnte und Frank nicht, stellt er klar. Man könnte annehmen, dass Jack mit den Jungen ein Boot-Camp in der Wildnis plant; denn er kassiert ihre iPods und Uhren ein. Bei Jack gibt es keine technischen Spielereien an Bord, stellt er klar. Doch es kommt anders, Jacks Boot wird im Sturm beschädigt und sinkt, Jack selbst von den Fluten verschlungen. Die Jungen erreichen mit den letzten Planken des Rettungsbootes einen steinigen Strand an der Küste Alaskas, den möglicherweise seit Jahren kein Mensch betreten hat. Sie finden Unterschlupf in einer einfachen Hütte, können jedoch kein Feuer entzünden und leben einige Wochen lang von ungekochten Muscheln und Seetang. Erst als sie als Strandgut eine Angel finden und Lachse aus dem nahen Flüsschen fischen können, bekommen sie wieder Fleisch auf die Rippen. Die Hütte scheint ein Rabe als Revier zu beanspruchen, den Christopher Thursday nennt (angelehnt an Robinsons Freitag) und der hier oben in der Wildnis beinahe eine Mentorenrolle für den Jungen übernimmt. Das klingt idyllischer als es ist; denn Frank kann Thursday – natürlich – nicht ausstehen, so dass es ständig Streit um das Rabenviech gibt. Das Verhältnis zum allwissenden Frank, der keine Gelegenheit auslässt, seine Überlegenheit zu demonstrieren, ändert sich erst, als ein Grizzlybär auftaucht und als Christopher erkennt, dass nicht nur er Angst vor dem Wald, der Einsamkeit und den Tieren im Dunkel hat. Der Fluss ist nämlich das Revier der Grizzlys, die einen breiten Pfad bis zum Wasserfall getrampelt haben, auf dem ihre Prankenabdrücke deutlich zu sehen sind. Eines Nachts erscheint Christophers verstorbener Vater in seinem Traum und verkündet, dass die Jungen auf einen Mann achten sollen und dass sie 7 Tage nach der Begegnung gerettet werden. Im beginnenden Herbst an einer einsamen unwirtlichen Küste und ohne Feuerzeug oder Streichhölzer scheint das ein mehr als frommer Wunsch zu sein. Doch Christopher zählt die Tage ... Iain Lawrence setzt in seinem Abenteuerbuch für Jugendliche zwei Jungen unvorbereitet in Alaska aus, die sich zunächst bekämpfen wie Hund und Katze. Dass 2 Jahre nach dem Tsunami in Japan allmählich Strandgut aus dem Besitz der Opfer an Alaskas Küste angespült wird, ist nicht die einzige unheimliche Ebene der insgesamt etwas zu märchenhaften Geschichte. Die Jungen müssen sich mit ihren Ängsten ebenso auseinandersetzen wie mit den Erwartungen, die ihre Väter einmal an sie hatten. Die Rolle des schlauen Thursday bietet Interessierten die Gelegenheit, in die Mythologie des pazifischen Nordwestens einzutauchen. Als Sahnehäubchen erzählt Lawrence im Nachwort von der Entstehung des Buchs. Er arbeitete jahrelang in Prince Rupert in der Funkstation und konnte von seinem Arbeitsplatz die Küste Alaskas sehen. Christophers und Franks Abenteuer hat er praktisch an seinem Sehnsuchtsort angesiedelt. Ein Abenteuer für Leser aller Altersgruppen mit Sehnsucht nach gemäßigten Regenwäldern, in denen jahrhundertealte Bäume wie Magiere aus dem Nebel ragen …

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