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marcello

Posted on 18.3.2021

In den letzten Jahren ist es fahrlässig wenig geworden, was an klassischen Jugendbüchern noch bei mir einzieht, dabei waren diese in meiner eigentlichen Jugend und auch in den ersten Studienjahren noch mein absolutes Lebenselixier. Vielleicht ist das schlichtweg ein Zeichen, dass ich (zu) erwachsen geworden bin und dass mich deswegen andere Genres einfach mehr reizen. Und dennoch sind die Erinnerungen noch da, wie gut verstanden ich mich gefühlt habe, wenn ich über andere jugendliche Figuren ein Teil von etwas sein durfte. Vielleicht war in genau dem Moment, als ich das Cover von „Die Liebesbriefe von Abelard und Lily“ sah, die Sehnsucht nach diesem Gefühl besonders groß, jedenfalls habe ich zugegriffen und hier ist meine Einschätzung. Was das Buch von Laura Creedle so besonders macht, ist vorrangig, dass es sich um eine höchst authentische Lektüre handelt, denn wir erleben die Geschichte durch die Augen der 16-jährige Lily, die an ADHS leidet und zudem Legasthenikerin ist. Die Autorin selbst hat auch beide Diagnosen gestellt bekommt und das merkt man beim Lesen überdeutlich. Wenn man in jedem Bekanntenkreis einmal herumfragt, dann wird man immer auf mindestens eine Person stoßen, die vermeintlich ADHS diagnostiziert bekommen hat, was aber einfach nur die heißgeliebte Begründung ist, sich für aktive Kinder zu rechtfertigen. Was ADHS bedeutet, wird meiner Meinung nach in dem Buch hervorragend transportiert, ebenso die Legasthenie. Oft hat man Bücher in denen etwas dargestellt wird, aber da wird nur darüber gesprochen, richtig gelebt wird es nicht. Aber was mit Lily los ist, merkt man schon an ihrer Art, wie sie die Geschichte erzählt und wie Creedle dementsprechend ihren Erzählstil gewählt hat. Sicherlich ist das nicht 100% konsequent umgesetzt, weil es eine anstrengende Lektüre ergeben hätte, aber wenn Lily die Sätze anderer mit vielen Fremdworten nicht versteht oder Untertitel nicht verfolgen kann, da wird vieles konsequent angesprochen und umgesetzt. Auf der anderen Seite haben wir Abelard, der Asperger diagnostiziert bekommen hat. Die Geschichte ist nicht aus seiner Sicht erzählt und Lily kann sich aufgrund ihrer eigenen Diagnose nicht völlig in die Idee reinhängen, wie Abelard ist und was das genau bedeutet. Dementsprechend ist er als Figur deutlich weniger greifbar, aber auch hier bemerkt man trotz größerer emotionalerer Entfernung, dass sich Creedle auch bei ihm um Authentizität bemüht hat. Die beiden sind nun wahrlich nicht die idealen Kandidaten für eine epische Liebesgeschichte, aber wie realistisch sind diese epischen Liebesgeschichten eigentlich? Wir wünschen uns sie alle, aber wer bekommt sie schon wirklich, wie sie wir uns in zuckerrosa ausmalen? Dementsprechend bin ich glücklich, hier eine so bodenständige und dadurch so realistische Liebesgeschichte gezeigt zu bekommen. Lily küsst impulsiv, während das für ihn eine riesige Überwindung ist. Er verlangt absolute Pünktlichkeit, die aber nicht einhalten kann. Sie macht alles kaputt, während er alles repariert sehen will. Und doch haben sie eins gemeinsam: sie mögen einander. So simpel und doch so schön. Natürlich muss ich mir eingestehen, dass ich nicht restlos an den Seiten geklebt habe, weil die Geschichte eine gewisse Distanz aufrechterhält, aber das hat es mir andererseits auch erlaubt, auf diese konsequente Machart durch Creedle zu achten. Weiterhin gibt es auch kaum langatmige Gefühlsergüsse, weil Lily jeden Rückschlag in ihrer Denkart schnell abhakt, da sie eine intensive geistige Beschäftigung damit nicht durchhalten kann. All das sind normalerweise Aspekte, die ich ähnlichen Büchern vorwerfen würde, aber hier wäre das brutal falsch. Denn sonst wäre das nicht die Geschichte von Abelard und Lily. Zudem haben mir einige angestoßenen Themen sehr gut gefallen. Besonders ist dabei natürlich der Umgang mit Anderssein zu nennen, denn Lily würde sich manchmal wünschen, normal zu sein, aber gleichzeitig kennt sie es nicht anders und deswegen ist eine von ihrer Mutter angestoßene Hirnoperation für sie die Überzeugung, dass sie so nicht geliebt werden kann. Hier merkt man auch wieder eindeutig, dass Creedle ihre eigenen Erfahrungen hat einfließen lassen. Einzig richtig schade fand ich zum Abschluss das offene Ende. Das sollte sicherlich eine Botschaft haben, aber diese war für mich nicht eindeutig. Es wirkt ein wenig wie kurz vor dem Ende abgebrochen. Das war tatsächlich noch ein Dämpfer zum Abschluss. Fazit: „Die Liebesbriefe von Abelard und Lily“ ist ein höchst authentisch gewordenes Jugendbuch, das erzählerisch, inhaltlich und stilistisch nahezu perfekt die an ADHS erkrankte Lily einfängt. So konsequent ein Buch zu schreiben, ist schon jedes Kompliment wert. Das macht es aber auch zu einer außergewöhnlichen Lektüre, die sicherlich nicht jedermanns Geschmack ist. Aber wer etwas Echtes will, ist hier genau richtig.

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